Touristen in der Grabeskirche, Jerusalem
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Ein Selfie mit dem Gekreuzigten

Heute bin ich meinem Schöpfer gegenüber getreten. Ich war auf Golgatha. An der Stelle, an der sie Jesus die Nägel durch Hände und Füße getrieben haben, an der sie ihn ans Kreuz geschlagen und dem Gespött der Öffentlichkeit zum Fraß hingestellt haben. So steht das wohl in der Bibel, so jedenfalls habe ich das in der Schule gelernt; und letzten Endes ist das ja egal, ob sie da einen Religionsstifter martialisch zu Tode gebracht haben oder einen langhaarigen Fantasten, der keinen Bock hatte, bei seinem Vater in die Schreinerlehre zu gehen. Heute jedenfalls ist Jesus von Nazareth einer der bekanntesten Menschen des Planeten (andere sagen sogar des Universums) und da, wo er gefoltert und ermordet wurde, steht heute die Grabeskirche.

Die hat den kleinen Schönheitsfehler, dass man nicht so genau weiß, ob dort tatsächlich das „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ gesprochen wurde … Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, hatte lediglich ein paar Mutmaßungen, ein ausgehobenes Grab und drei ausgegrabene Kreuze, als sie 300 Jahre nach jenem Event dort die Kirche errichten ließ, die im Laufe der Jahrhunderte noch zahlreiche Metamorphosen durchgemacht hat – wahlweise wurde die Kirche zerstört oder es fehlte Geld zum Wiederaufbau, aber das ist wirklich eine andere Geschichte.

Hier stand ich nun. War ich bestürzt? Schüttelte es mich innerlich? Mir ging die Kreuzigungsszene aus Ben Hur durch den Kopf. Jesus schrie vor Schmerzen; erst im Kino, mit diesem Ton wurde mir bewusst, was das eigentlich heißt, Kreuzigung. War ich also bestürzt? Angesichts der Reisegruppen, die anstanden, um den heiligen Boden zu herzen und an Monty Pythons Und jeder nur ein Kreuz! erinnerten, eher nicht. Dort zu stehen, wo das Kreuz stand, umringt von Touristen mit lustigen zitronengelben Reiseveranstalter-Käppis, neben dem Felsen mit dem Riss, der entstanden sein soll, als die Erde nach der Kreuzigung bebte, ließ keine Bestürzung aufkommen. In der Warteschlange anstehen, unter den Tisch kriechen, den Boden küssen oder herzen, wieder raus, Hast du alles drauf?, der Nächste bitte, der Bus wartet schon.
Auf der Steintafel, auf der Jesu Leichnam gewaschen und gesalbt worden sein soll, breiten ältere Damen den Inhalt ihrer Handtaschen aus, um auf möglichst vielen Gegenständen ein Odium dieses heiligen Ortes mit nach Hause zu bringen; Lippenstift mit Jesus-Flair, willst Du haben? Mache ich guten Preis.
Der Glaube ist formatiert, das Gedenken organisiert. Und das Selfie mit dem Gekreuzigten landet als weiterer Clip in der Cloud – wie jene Kiste mit der Bundeslade, hinter der alle her waren, am Ende von Jäger des verlorenen Schatzes in der riesigen Lagerhalle.

Ja, das Leben ist ein Film und wir sind die Statisten. Ich bin nicht unter den Tisch gekrabbelt. Ich wäre lieber bestürzt gewesen. Ich habe dann statt dessen gefilmt.

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