Gnus am Mara River
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Blutbad und Sandwich

Die Wolken am Himmel hatten schon früh einen heißen Tag versprochen. Und als die Sonne aufging wusste Guntram, dass er Recht behalten würde.

Ein langer, heißer Tag, an dem Guntram nur eine Aufgabe haben würde – dieselbe wie gestern, vorgestern, dieselbe, wie jeden Tag, seit er den Machtkampf gegen Gerfried gewonnen hatte … wie lange war das her? Guntram hatte als Anführer der Gnus dafür zu sorgen, dass die große Herde in der Savanne immer genug Gras hatte und am Abend nicht kleiner war als am Morgen. Guntram, das Gnu, hatte einen Knochenjob.

Einmal im Jahr mussten Guntram und seine Gnus auf Wanderschaft. Das Gras in der Savanne wurde knapp, die Tiere mussten ihrem Essen hinterher laufen. Das Gras stets kurz zu halten und zu düngen war die eine Aufgabe, die die Natur den Gnus zugedacht hatte, die andere war unangenehmer: Gnus standen in der Nahrungskette ziemlich weit unten und ihr einziger Schutz war ihre Größe; da wagte sich nicht jedes Raubtier ran – die rasend schnellen Geparden etwa ließen Gnus lieber in Ruhe, es sei denn, sie konnten ein Jungtier reißen; deshalb hatte Guntram seinen Leuten eingebläut, auf Wanderschaft die Kinder immer in die Mitte zu nehmen. Heute würde das wohl nicht helfen. Geparden waren heute Guntrams geringstes Problem. Guntrams Problem waren die Schaulustigen.

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Die Gnus mussten den bis zu 50 Meter breiten Fluss queren, der sich durch die Savanne schlängelte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, das Gras wurde knapp und egal, wann sie den Fluss überqueren würden, es würden nicht alle drüben ankommen, jedenfalls nicht lebend. Seit heute morgen hatte Guntram seine Herde Meter für Meter an den Fluss geführt. Mittlerweile standen sie an dessen Ufer – und Guntram wartete. Die Krokodile würden sich die schwachen Tiere der Herde holen. Dann würde das Blut der Verwandten den Fluss rot färben und die Nilpferde sich empört schnaubend aus der kühlen Flussmitte ans Ufer verziehen. Die Nilpferde haben es gut, denen tut keiner was, der bei Verstand ist, dachte Guntram.

An beiden Seiten des Flusses standen, aufgereiht wie die Erdmännchen, die großen Geländewagen, voll mit Menschen und ihren Teleobjektiven. Guntram verstand nicht, warum die Zweibeiner in der Hitze ausharrten, nur um zu sehen, wie seine Familie gerissen wird. Das ging doch niemanden etwas an. Dieser Moment im Kreislauf des Lebens, der Moment des Sterbens, war ein intimer Moment. Dennoch standen sie da in ihren heißen Blechbüchsen, tranken Bier, fraßen Sandwiches und warteten, dass nun endlich geschehe, weswegen sie hergekommen waren: Das Blutbad.

Nicht alle kommen durch

Guntram stand am Ufer, drehte sich um und betrachtete seine Herde. Er sah die alte Gundula, die das andere Ufer wohl nicht mehr erreichen würde. Der kleine Gerhard dort zwischen Guido und Gabriele war wohl noch zu schwach, um es zu schaffen.
Die Zeit verstrich. Die Stille am Ufer wurde nur durchbrochen vom nervösen Geklicke der Kameras – wenn die Tiere schon nicht ins Wasser gingen, sollte der Trip bildtechnisch aber wenigstens irgendwas hergeben.
Guntram sah in die Augen seiner geliebten Gerlinde, die sanft den Kopf wiegte.

Er schnaubte zweimal und führte seine Herde zurück in das Gras, das sie heute morgen verlassen hatten. Heute sollte niemand sterben.

P.S.: Auch der Autor dieser Geschichte über Guntram hat sich über Stunden am Ufer des Mara River im Auto aufgehalten, nur um ein Blutbad zu filmen, das man sich längst in großer Auswahl bei Youtube ansehen kann. Die Great Migration am Mara River, jedes Jahr im Herbst, ist sowas wie der Circus Maximus der Savanne – mit todgeweihten Tieren und Zuschauern, die Brot und Spiele für ihr Fotoalbum fordern.

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