… statt nur dabei
Urlaub richtig gemacht weitet den Blick. Urlaub machen heißt ja nicht, woanders hinfahren und da so weitermachen wie gehabt. In meinem Mainzer Alltag lebe ich alleine. Hier im Urlaubs-Sommer lebe ich mit Schwester, Schwippschwager, Schwippnichte (gibt’s so etwas?) und deren Freunden, und wer da nun behauptet, da hätte ich doch endlich mal Gesellschaft, hat so Unrecht nicht. Er sollte aber das endlich mal streichen.
Leben in dauernder Gesellschaft ist für mich ungewohnt. Eigene Wünsche zu formulieren, um sie in der Gruppe durchzusetzen, ist mir fremd – zuhause setze ich um, was ich mir vornehme. Hier tue ich mich mit einfachsten Wünschen schwer, allein der Gedanke, mich vom abendlichen Gesellschaftsspiel zu absentieren, weil ich lieber lesen oder schreiben oder einfach meinen Gedanken gegenüber dem reichhaltigen Sternenhimmel nachhängen will, ist mir Herausforderung.
Denn einerseits: Bin ich nicht mit mehreren Menschen hierher gereist, und kann ich da einfach so egoistisch mich ausklinken? Was werden die denken?
Aber andererseits: Zuhause habe ich keinen solchen Sternenhimmel, gegen den ich andenken kann. Ist das also kein legitimes Urlaubsinteresse.
Das tägliche Miteinander ist mir fremd geworden
Nach zwei Wochen La Gomera ist mir klar, dass ich das schlichte Einmaleins der Praxis des täglichen miteinander Auskommens nicht beherrsche. In meinem Ruderboot auf dem Rhein ist das einfacher – da ist klar, in welche Richtung wir wollen und, dass wir alle synchron arbeiten müssen (woran wir dann arbeiten können auf unseren Trainingsfahrten). Darauf muss ich ein Auge haben, wenn ich jetzt mein Leben … mein Vorruhestands-Leben neu ordne. Urlaub weitet den Blick.
Ganz praktisch wird mir das bei der täglichen Lektüre klar. Vorgestern hat ein Amok-Typ im OEZ in München um sich geschossen – in der Folge wurden U- und S-Bahnlinien still gelegt, die Polizei forderte Passanten in der GESAMTEN INNENSTADT auf, nach Hause zu gehen oder Zuflucht zu suchen und die nationalen TV-Sender haben sicher in Dauer-Brennpunkten live gesendet.
Der Roman war spannender als die Schießerei am OEZ
Ich kam vom Strand, als ich das erste Mal davon las und mein erster Impuls war, sofort sämtliche Online-Seiten nach der aktuellen Entwicklung zu durchforsten – im Olympia Einkaufszentrum (OEZ) war ich in meinen Münchner Jahren oft gewesen, kenne also die Topografie. Aber eigentlich … also streng genommen … wollte ich auch unter die Dusche; und das Buch, das ich gerade lese, ist auch ziemlich spannend. Die wichtigsten Punkte des OEZ-Terrors hatte ich schnell erfasst, ich konnte weder etwas ändern, noch etwas beitragen … also ging ich duschen, dann essen, dann Stadt-Land-Fluss spielen und dann Roman lesen. Am nächsten Tag las ich in der SZ, was es in Sachen OEZ zu wissen gab – professionell zusammengefasst. Genau so war das kurz zuvor bei dem Axt-Typ im Regionalexpress bei Würzburg und bei dem Lkw-Killer in Nizza; nur der Putsch in der Türkei hat mich ähnlich intensiv beschäftigt, als wäre ich noch Mitarbeiter in der Nachrichtenredaktion des ZDF.
Aber insgesamt gesehen ändert sich eben etwas.
Ich bin seit Jahren nicht mehr dazu gekommen, mal intensiv mehrere Bücher hintereinander zu lesen – dauernd lag da die SZ, der Spiegel, die Lokalzeitung, die ich ja lesen muss, um auf dem Laufenden zu sein. Aber das muss ich nun nicht mehr. Es ist Wurst, wenn ich erst übermorgen weiß, wieviele Tote der OEZ-Amok gekostet hat und wer dahinter steckt, für mein tägliches Leben spielt diese Information keine direkte Rolle. Der Roman indes, den ich gerade lese, der beschäftigt mich sehr, weil er spannend ist, einen Blick auf die evangelikalen Christen in den USA wirft und die Fortsetzung eines Klassikers der Zeitreiseliteratur ist.
Im Zentrum: Mein Leben
Das wiegt keine realen Toten auf – weder solche in München noch solche in Nizza noch solche in Istanbul noch solche in Kabul noch solche in Bagdad noch solche in Aleppo noch solche in Baton Rouge. Aber es ändert die Führung meines Lebens – und auf die Toten, auf die Menschen, die sterben sollen, habe ich ohnehin keinen Einfluss.
Urlaub richtig gemacht weitet den Blick: Ich muss mein Zentrum finden. Ich muss nicht mehr dauernd am Rand stehen und besser wissend das Geschehen im Zentrum der Aufmerksamkeit kommentieren. Das machen jetzt andere. Im Zentrum ist jetzt mein Leben.
Oder einfach nur … der Sternenhimmel
Ich muss mein Leben leben … es finden und dann leben, mich mit ungewohnten Reisegruppen arrangieren und Romane statt Zeitungen lesen – oder einfach nur den Sternenhimmel bestaunen.
Alles Weitere ergibt sich dann – wahrscheinlich.