Karneval (Bild ist KI generiert)
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Sehnsucht nach Tante Emma

Ich muss so 14, 15 Jahre alt gewesen sein. Es war Karnevalszeit in Köln, die Schaufenster voll mit Kostümen, Clownsmasken, Luftschlangen und Cowboyhüten. Es waren die 1970er Jahre, man durfte sich noch als Indianer verkleiden und sich dann auch so nennen, ohne von Lehrerinnen ermahnt und von wohl meinenden Parkaträgern der kulturellen Aneignung geziehen zu werden. Jedenfalls: Ich kaufte mir im Schreibwarenladen von Herrn Krauss ein automatisches Schnellfeuergewehr – aus Plastik, Schreckschuss, ganz und gar ungefährlich, sah aber martialisch aus und kostete die unglaubliche Summe von 27,90 D-Mark. Ich zahlte und ging freudestrahlend meiner Wege.

Bis meine Mutter mich mit dem Ding sah, vor friedensbewegter Empörung in die Luft ging und mich anwies, dieses „schreckliche Ding SOFORT zu Herrn Krauss“ zurückzubringen.

Aktuell kämpfe ich gerade in einer Posse um ein online gekauftes Kofferset. Warum kaufe ich Reisegepäck im Internet? Und nicht bei der Ende August sterbenden Kaufhof-Filliale in meiner kleinen Hauptstadt? Weil ich nicht nachgedacht habe. Weil die Koffer auf der Website so schick aussahen. Weil das Unternehmen hinter der Website mir zum Geburtstag einen 12-Prozent-Gutschein geschenkt hatte (ich hatte bei denen schon mal eine Brusttasche für jemanden gekauft, der sich genau diese Tasche zu Weihnachten gewünscht hatte, mit Angabe der URL; daher hatte das Unternehmen meine E-Mailadresse).

Modell aussuchen. Klicken. Kreditkartennummer. Gekauft. Einen Handgepäckkoffer und einen großen Koffer in sanftem, hellem Gelb – „Sandfarben“ nennen sie das. Das Unternehmen gewährte mir dann nicht zwölf Prozent Rabatt, sondern nur fünf, weil das Kofferset aktuell schon rabattiert sei, und in einem solchen Fall gelten weitere Rabatte nicht. Das stand zwar nirgendwo deutlich, aber eine freundliche Mitarbeiterin des Unternehmens verwies mich darauf – „Hey, Christoph“ –, dass ich diese Information „in unseren FAQ sowie auch in der Anmeldebestätigung zu unserem Newsletter, die du per E-Mail erhalten hast“ nachlesen könne. Also im Kleingedruckten. Am Tag vor meiner Abreise nach Venedig kam die Nachricht „Morgen kommt Ihre Lieferung“. Blöd, dachte ich, denn da bin ich ja nicht da. Die Möglichkeit, auf der Website des Kurierdienstes einen anderen Zeitpunkt zu vereinbaren, schickte mich im Kreis immer wieder zu „Lieferzeit ändern“ zurück. Ändern konnte ich nichts. Auch das Unternehmen, dass die Koffer verkauft, konnte nicht helfen. Als ich nach fünf Tagen spät Abends aus Venedig zurück kam, stand ein gewaltiges Paket vor meiner Wohnungstür. Der Nachbar, den ich persönlich nicht kenne, der es aber in Empfang genommen hatte, hat es über die Pfingsttage vor meiner Tür gelagert. Gut klaubar für Jedermensch. Ich öffnete das Paket, freute mich über die schönen Koffer, zerkleinerte die Kartonage und brachte alles ins Altpapier.

Kofferset: Mutual Clay und Sandstone

Bei Tageslicht am nächsten Tag stellte ich fest. Nur der kleine Koffer war Sandfarben, der große Koffer aber in was das Unternehmen „Gedämpfter Ton“ nennt, nicht so meine Farbe. „Oh nein“ und „Oh weh“ zeigte sich per E-Mail – „Hey, Christoph“ – die Dame im Kundenportal des Unternehmens mitfühlend. Ich solle die Koffer doch einfach zurückschicken, „angehängt ein Retourlabel als QR-Code“ des Kurierdienstes. Blöd nur, dass ich den Karton schon zerkleinert hatte. So große Kartonagen, wie die zwei Koffer – je eine für jeden Koffer und dann eine, um beide zusammenzupacken – gibt’s in keinem Baumarkt zu kaufen. Dann „würde ich dir hier einmal den vielleicht für dich einfachsten Weg anbieten“, schrieb die freundliche Service-Dame per E-Mail – mittlerweile waren zwei Tage ins Land gegangen – „Ich kann dir das Set einmal neu zusenden. Nachdem du diese erhältst, kannst du die Koffer, die du aktuell bei dir hast in die Kartons der neuen legen und diese an uns zurückzusenden.“ Ich könne sie dann dem Kurier gleich wieder mitgeben – und wenn das nicht klappt, schicke ich einen zweiten Kurier, der das Paket abholt. Beigefügt habe ich Dir „ein Retourlabel als QR-Code“ für den Kurierdienst. Eine Woche, nachdem ich das riesige Paket in meiner Wohnungstür gefunden, geöffnet und den Farbfehler erkannt hatte, stand ein Kurier mit riesigem Paket vor meiner Tür. Während ich in Windeseile versuchte, die neuen Koffer aus- und die alten Koffer einzupacken – Kuriere arbeiten immer unter immensem Zeitdruck – , machte mir der Kurier klar, dass ich mit dem vom Kofferunternehmen gelieferten QR-Code nur in einem Ladengeschäft des zuständigen Kurierdienstes für eine Retoure vorstellig werden könne, er, der fahrende Kurier, benötige einen Strichcode. Ich rang noch mit neu aufkeimender Hilflosigkeit, da sah ich, dass wieder beide Koffer farblich unterschiedlich waren – entweder arbeiten die Lagerarbeiter dort ohne Tageslicht, oder die Lager für sandfarbene Koffer sind aktuell mit lehmfarbenen Koffern gefüllt, was der farbneutral arbeitende Lagerhausroboter freilich nicht erkennen kann.

Kurz: Ich hatte eine Woche lang viel Schreibverkehr mit einer fröhlich freundlichen Servicedame, die bedauerlicherweise keinen Einblick in Lager und Versand hat, dazu meine letzten Tage um potenzielle Lieferzeiten eines Kuriers herum geplant und stehe jetzt wieder am Anfang. Also dem Anfang nach der schief gelaufenen Bestellung. Die fehlfarbenen Koffer stehen immer noch hier. Das Kofferunternehmen hat mir umgehend via E-Mail mitgeteilt, dass es wohl „leider ein Problem bei der Auslieferung Deines Pakets gab und die Sendung an das Verteilzentrum zurückgeführt wird. Hier wird es für Dich 10 Tage gelagert“. Die Mail kam von einer noreply-Adresse, es ist mir also noch nicht gelungen, der „Service Crew“ zu sagen, dass es sich keineswegs um ein Lieferproblem handelt und sie das Paket nicht in irgendeinem Verteilzentrum für mich lagern muss. Auch die fröhlich freundliche Servicedame, die sich nach der ersten Fehllieferung meiner angenommen hatte, hat noch nicht auf meine E-Mail reagiert, in der ich erkläre, dass ich von dem Kauf zurücktrete und nun doch den Gang zur sterbenden Kaufhof-Filiale in meiner kleinen Hauptstadt antrete.

Herr Krauss übrigens, der Mann aus den 70ern mit dem Schreibwarenladen, nahm die Schnellfeuerplastikwaffe damals mitleidig nickend zurück. Nicht nur hätte er mit mir, dem Minderjährigen, dieses Geschäft von über 20 Mark gar nicht machen dürfen. Er kannte auch unsere Familie seit 17 Jahren, seit wir da wohnten – da war ich noch gar nicht geboren. Ich brauchte weder QR-Codes noch Retouren-Stempel, und langwierige Erklärungen in Schriftform waren bei diesem Umtausch auch nicht nötig. Aber auch Herr Krauss hat mich schon konsequent geduzt.

Was waren das für schöne Zeiten.

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