
Dank der Kuh von Mrs. O’Leary
Wie intim möchte man einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten kennen? Möchte man wissen, wo er zum ersten Mal seine spätere Frau geküsst hat und wie es geschmeckt hat?
Ja.
Ich bin heute Morgen ganz weit in den Süden Chicagos gefahren, an die 53. Straße Ecke Dorchester Avenue. Da gibt es an einer unscheinbaren Ecke, an der ein SUBWAY und ein T-Home-Laden um Kundschaft buhlen, einen Gedenkstein an der Stelle, an der Barack Obama beim ersten Date Michelle LaVaughn Robinson geküsst hat. Er hatte sie zum Eis eingeladen – an der Ecke war damals kein SUBWAY, sondern ein Baskin&Robbins. Ihr Kuss habe nach Schokolade geschmeckt. Solche Geschichten bekomme ich sonst nur beim Friseur in der „Gala“ erzählt.
Ein demoliertes Gedenken
Meine Neugier für die Stelle erregte die Aufmerksamkeit einiger Hispanics, die an der Ecke ihrem Tagwerk nachgingen, das darin bestand, an der Ecke zu stehen, ab und zu wegzugehen und wiederzukommen. Den Gedenkstein schienen sie zum ersten Mal wahrzunehmen. Hinzu gesellte sich eine Afroamerikanerin mit gelber Warnweste, die gleich in lautes Wehklagen ausbrach, das sich zunächst wie ein romantisches Hach anhörte. Mir war die seltsame Architektur der – wie nennt man eine solche Kussstelle eigentlich? Wirklich Gedenkstein? – Gedenkstätte aufgefallen, die keinen Sinn ergab: ein Steinsockel in Pflanzenerde, aber der Gedenkstein einen Meter dahinter auf der Pflanzenerde. Tatsächlich war offenbar ein schwerer Wagen in die Ecke gerauscht, hatte den Zaun durchbrochen und den Stein vom Sockel gebrochen. Schien noch niemandem aufgefallen zu sein. Ein kurzes Gespräch hob an, ob das wohl ein Trump-Fan in seinem Pick-Up gewesen sein könnte, der ich mich durch Schulterzucken entzog; ich wollte hier im Süden Chicagos ungerne in eine politische Diskussion hineingezogen werden.
Mit dem Regionalzug fuhr ich zurück in die Innenstadt. Mein Ziel war der Willis Tower, der, als ich ihn vor 46 Jahren zum ersten Mal besuchte, noch Sears Tower hieß und das höchste Gebäude der Welt war; von einer Local erfuhr ich später am Tag, dass die Chicagoer ihn immer noch Sears Tower nennen. Sears, ein Einzelhandelsunternehmen, das im späten 19. Jahrhundert in Chicago begann, hatte, als der Turm 1973 eröffnet wurde, dessen untere Hälfte gemietet, also rund 55 Stockwerke. 2009 gingen die Namensrechte an die Willis-Group, da war Sears aus dem Turm schon seit 14 Jahren raus und hat momentan noch elf Ladengeschäfte. Heute ist der Tower weltweit, was die Höhe angeht, nur noch die Nummer 23. Was aber nichts an seiner Eleganz ändert. In The Dark Knight (2008) steht Batman auf dem Dach des Gebäudes und wacht sinnierend über seine Stadt.
Niemand baut für sich allein
Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu geben in Chicago, das eine Architekturdozentin später so zusammenfasste: „Niemand in Chicago baut für sich allein. Er baut immer für die Allgemeinheit.“ Heißt: Wenn mal die Architektur am Neubau nichts Außergewöhnliches zu bieten hat, dann ist das Werk eines namhaften Künstlers vor dem Haupteingang aber das Mindeste, was der Bauherr zu bieten haben muss. Deshalb ist Chicago so schön. Den Ursprung seiner Schönheit hat die Stadt, der die Schönheit nun wirklich nicht in die Wiege gelegt worden ist, am 8. Oktober 1871. Der Legende nach soll an diesem Tag die Kuh von Mrs. O’Leary eine Kerosinlampe umgestoßen haben und damit das Great Chicago Fire ausgelöst haben, dem mehr als 300 Menschen und 17.000 Gebäude zum Opfer fielen.
Andere Gerüchte besagen, dass Spekulanten das Feuer gelegt hätten, um die ursprünglich in einem Sumpfgebiet errichtete, wild gewachsene Stadt nach ihren Wünschen neu zu gestalten.
Aus der Asche wuchs der Boom. Namhafte Architekten und Baulöwen von der Ostküste nahmen feuerfestes Material zur Hand und bauten die erste moderne Großstadt. 1885 entstand der erste Wolkenkratzer, 1890 wurde mithilfe der Rockefeller Stiftung die Universität gegründet. 1892 folgte die erste Hochbahn. Und so ging das weiter und es gab weitsichtige Architekten und Kommunalpolitiker, die mitten in der zunehmenden Korruption in der Stadt dafür sorgten, dass Filetstücke am Wasser für immer unbebaut bleiben und für Parkanlagen genutzt werden würden. Damit brach kein Paradies aus, es kam ja erst noch die Prohibition mit ihren Auswüchsen und Al Capone, aber es wurde der Grundstein für eine schöne Stadt gelegt.
Gebäude miteinander in Kommunikation
Ich habe sie mir heute erst von oben angesehen und konnte anhand meiner alten Fotos von 1978 sehen, was sich alles verändert hat. Und dann nochmal vom Fluss aus. Von oben erkennt man eine Textur der Stadt, von unten die Kleinigkeiten, die augenscheinlich dafür sorgen, dass diese Stadt wie aus einem Guss wirkt, auch wenn das natürlich die Lobhudelei eines nicht sachverständigen Liebhabers ist. Gebäude stehen sich am Fluss gegenüber, die zueinander in Beziehung stehen, in Designelementen miteinander kommunizieren. Manchmal sind es nur die riesigen Glasfronten aus zahllosen gebogenen Spiegelgläsern, die einen wuchtigen Bau zum bunten Kaleidoskop machen. Die vielen Art Deco-Bauten mit ihren verspielten Elementen, zu denen die moderne Architektur mit ihren graden Linien und strenger Nüchternheit in kreativen Widerspruch tritt. In ihrer Entstehungszeit architektonische Experimente wie die Bienenwaben, eigentlich Marina City, Zwillingstürme am Fluss, die Wohnen, Parken und Schiffe anlegen – damals – kostengünstig unter einem Dach anbieten. Göttinnen thronen auf hohen Hausdächern und die Reichen und Schönen haben sich elegante Unauffälligkeiten direkt an den Fluss gebaut – von außen kaum wahrnehmbar, innen sollen es halbe Paläste sein.
Ich hätte meinen Aufenthalt in dieser wunderschönen Stadt gerne verlängert, aber mein Hotel verlangt für eine weitere Nacht 350 Dollar, das ist mehr, als ich für die beiden Nächte hier zusammen bezahlt habe. So groß ist meine Liebe zu Chicago dann auch nicht. So werde ich morgen noch einige Stunden durch die Stadt bummeln und am späten Nachmittag weiter nach Woodstock fahren, einem kleinen Städtchen im Nordwesten Chicagos, das in einem viel zitierten Film das Städtchen Punxsutawney gedoubelt hat.


3 Kommentare
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Markus
❤️❤️ Mehr kann man kaum sagen – toller Bericht über Chicago!