Gertie, die Stockente am Riverwalk, Milwaukee
Architektur,  Christoph,  Fauna,  Reisen

Unser Glamour ist eine Ente

Es ist schwer, eine Stadt zu erfassen, zu der ich gar keinen Bezug habe. Ich sagte ja schon, Milwaukee gehört zu diesen Städten, deren Namen ich immer wieder mal höre, und da dachte ich, fährste mal hin. Aber wo dann anfangen. In Paris gehe ich erstmal zum Eiffelturm, in Rom zum Petersdom. Der Rest ergibt sich daraus. In Milwaukee weiß selbst der Reiseführer nicht so recht, was er schreiben soll und reiht dann ein geschichtskundliches Museum an ein erdgeschichtliches Museum, das auf den Spieltrieb vor allem von Kindern ausgerichtet ist.

Weil ich also nicht wusste, wo ich anfangen soll, bin ich einfach mal losgelaufen. Ich wohne bei Jake in einem Zwei-Zimmer-Appartement, das recht zentral gelegen ist. Zu Fuß bin ich in 20 Minuten Downtown; das habe ich in Mainz auch nicht anders. Jake beschreibt sich selbst als „Reisender“, ist viel unterwegs und vermietet seine Wohnung in der Zeit an andere Reisende. Für mich ist das praktisch und für zentral in der Großstadt wohnen sehr günstig.

Eine Stadt buhlt um Aufmerksamkeit

Je länger ich lief, desto mehr vermisste ich ein echtes Zentrum. Gut, es gibt eine Innenstadt, es gibt einen Theaterdistrikt – an dem an einem Montagmittag, nicht überraschend, wenig los ist. Aber irgendwie eine Geschäftsmeile mit Läden und Gastronomie? Fand ich nicht. Milwaukee hat einen Fluss in seiner Mitte, den Milwaukee River. An dem gibt es einen Riverwalk. Dort kann man sich auf Bänken hinsetzen. Sonst nichts. Ein Dunkin‘ Donuts-Laden hat hier noch eine verschlierte Fensterfront, dahinter aber keinen Laden mehr. Das erinnert mich an Mainz, als ich da vor 22 Jahren hingezogen bin: ein super Rheinufer, aber den einzigen Kaffee gab’s am Hilton für Draußen-nur-Kännchen-kompatible 6,50 Euro. Als große Errungenschaft feierte die Stadt damals die Einrichtung eines Strands am Rhein in den Sommermonaten – das hatte Paris, das hatte Berlin, warum also nicht auch Mainz?

In Milwaukee scheint mir das ähnlich zu sein. Chicago hat einen Riverwalk? Das können wir auch. Der Riverwalk in Chicago ist eine Pracht, vor allem in den Abendstunden, wenn sich tief stehende Sonne und erste Laternen ergänzen. Der Riverwalk in Milwaukee ist Beton mit verschnörkelten Sitzmöbeln und Kunst – Standbilder und Objekte lokaler Künstler. Man läuft nicht schreiend davon, beileibe nicht. Aber es fehlt das Gemeinschaft stiftende, Gastronomie zum Beispiel.

Ich bin augenscheinlich in einer Stadt, die auf der Suche nach Attraktionen für ihre Bürger und die Touristen ist. Davon zeugt auch der Signature-Bau des Museum of Art. Hier und da gibt es Ecken, da reihen sich ein paar Lokale aneinander. Auf dem Martin Luther King Drive auf der anderen Flussseite hat die Schlachterei Usinger mit deutschen Ahnen ihren Sitz, die über die Stadtgrenzen hinaus weltberühmt ist; zwei Fenster weiter ist der Wisconsin Cheese Market, von dem die Tourist Information ohne Rot zu werden erklärt, dort gebe es „the best Cheese of all America“. Gegenüber dieser beiden Läden gibt es dazu passende Bars, die zum Beispiel Hot Dogs in einer deutschen Version anbieten: Bratwurst in Laugenbrötchen mit Zwiebeln, Pilzen und Pommes Frites.

Im nächsten Häuserblock ist dann wieder tote Hose. Aus Touristensicht.

Vor meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin, im Oktober 2024In meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin, im Oktober 2024In meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin, im Oktober 2024In meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin, im Oktober 2024In meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin, im Oktober 2024East Side MilwaukeeEast Side MilwaukeeEast Side MilwaukeeDowntown MilwaukeeDowntown MilwaukeeDowntown MilwaukeeDowntown MilwaukeeDowntown Milwaukee, TheaterdistriktDowntown MilwaukeeCity Hall, MilwaukeeCity Hall, MilwaukeeDowntown Milwaukee, RiverwalkDowntown Milwaukee, RiverwalkDowntown Milwaukee, RiverwalkDowntown Milwaukee, Riverwalk unterbrochenDowntown Milwaukee: The Grain ExchangeMilwaukee, Third Ward: Public MarketMilwaukee, Third Ward: Public MarketMilwaukee, Third Ward: Public MarketGertie, the DuckMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third WardMilwaukee, Third Ward
In meiner Unterkunft in Milwaukee, Wisconsin
In meiner Unterkunft in Milwaukee
In meiner Unterkunft in Milwaukee
In meiner Unterkunft in Milwaukee
In meiner Unterkunft in Milwaukee
East Side Milwaukee
East Side Milwaukee
East Side Milwaukee
Downtown Milwaukee
Downtown Milwaukee
Downtown Milwaukee
Downtown Milwaukee
Downtown Milwaukee, Theaterdistrikt
Downtown Milwaukee
City Hall, Milwaukee
City Hall, Milwaukee
Downtown Milwaukee, Riverwalk
Downtown Milwaukee, Riverwalk
Downtown Milwaukee, Riverwalk
Downtown Milwaukee, Riverwalk unterbrochen
Downtown Milwaukee: The Grain Exchange
Milwaukee, Third Ward: Public Market
Milwaukee, Third Ward: Public Market
Milwaukee, Third Ward: Public Market
Gertie, the Duck
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward
Milwaukee, Third Ward

Man kann es positiv ausdrücken: Wie Milwaukee sehen US-Städte aus, in denen nicht Investoren die Geschäfte diktieren und sich folglich keine Architekten-Egos austoben. Milwaukee ist eine Stadt, die mit den Ansprüchen ihrer Einwohner gewachsen ist. Während in Städten wie New York City oder Chicago die Einwohner ihre Stadt zu ihrem Daseinszweck erklären, dort wohnen, weil es eben New York ist, orientieren sich Städte wie Milwaukee an ihren Einwohnern. Der auffälligste Bau ist die grotesk riesige City Hall, 1895 gebaut in einem „flämischen Stil“, lese ich und frage mich, aus welchem Gedanken heraus die entstanden ist. Der Bau passt zu nichts in seiner Umgebung, ist mit seinen verspielten Giebeln und den verschnörkelten Fensterornamenten aber offenbar bewusst genau so gewollt. Drumherum gruppiert sich Zweckarchitektur aus knapp 20 Jahrzehnten, jeweils gebaut, wenn sie gebraucht wurde.

Soweit die Füße tragen

Wer die Stadt kennenlernen möchte, muss sich ein bisschen anstrengen, muss gucken, sich selbst was suchen. Ich habe viele Blocks umkreist heute, meine Füße melden leisen Protest an, Kennenlernen geht nicht ohne Mühen. Der Autoverkehr in der Innenstadt ist an diesem Montag überschaubar. Man sollte nicht ohne zu gucken über eine rote Ampel gehen, aber so richtig Verkehr mit Stau und Gehupe tobt nicht. Und bei Rot über die Ampel gehen auch die Wenigsten – anders als in den oben genannten Glitzerstädten, wo Ampelfarben einem Angebot an die Gemeinschaft gleich kommen, aber keiner Regel. Mich erinnert das an Syracuse, wo ich vor einer Woche war und auch da schon den Eindruck hatte, dass der Bär da nicht steppt. Wie Syracuse ist Milwaukee eine Industriestadt.

Hier ist die Industrie vornehmlich im Süden, um den Hafen und im Westen angesiedelt. Im 19. Jahrhundert war Milwaukee der größte Umschlagplatz für Getreide in Amerika. Von keinem Hafen auf der Welt wurde zu dieser Zeit mehr Getreide exportiert. Den „Grain Exchange Room“, 1897 eröffnet und 1.000 Quadratmeter groß mit Säulen, Fresken und Gemälden, kann man manchmal besichtigen. Heute und morgen leider nicht. Der Punkt an dieser Stelle ist die Vergangenheitsform: Milwaukee war der größte Umschlagplatz.

Südlich der großen Interstates, die den Verkehr auf Brücken über die Stadt hinweg donnern lassen, beginnt der Third Ward, der Dritte Bezirk. Hier stehen all die vielen Lagerhäuser, die heute nicht mehr gebraucht werden. Die Stadt hat das vorhandene Material genutzt, saniert, renoviert und Restaurants und Boutiquen angesiedelt. Hier ist Volk, sitzen Leute im Public Market bei gesundem Obst und Eiskaffee mit Honig, nebenan bei veganen Bowls, kalifornischem Weißwein und süßen Törtchen. Die Gegend wirkt auf den Tagestouristen, als wachse da was. Schön ist es und zum Flanieren, Sitzen und Gucken lädt es ein.

Die Stockente gibt in der Stadt den Takt vor

Deshalb wird aber aus Milwaukee niemals ein hipper Hotspot für Selfiejäger und Gras-wachsen-Hörerinnen. Das Wappentier der Milwaukeeens ist eine Stockente mit Namen Gertie. Die es wirklich gegeben hat.

Die Ente hatte sich im April 1945 auf einem morschen Baumstamm unter der Wisconsin Avenue Brücke eingerichtet, um neun Eier auszubrüten. Auf diesem wackligen, für brütende Tiere höchst unsicheren Stamm fiel sie einem Lokalreporter des Milwaukee Journal auf, der über die tapfere Ente, die er Gertie taufte, Artikel um Artikel schrieb – es war die Zeit des zu Ende gehenden Zweiten Weltkriegs, viele Ehemänner, Väter, Söhne waren im fernen Europa im Krieg, die daheim Gebliebenen konnten positive Nachrichten gut gebrauchen. Und die auf ihrem morschen Stamm brütende Ente schlug ein. In der Zeitungsredaktion trafen Muttertagskarten für die Ente ein, das Lokalradio stieg in die Berichterstattung ein, der damals konkurrierende Sentinel versuchte, die Entenaufmerksamkeit ins eigene Blatt zu lenken. Die Pfadfinder bildeten eine Gertie-Patrouille, es folgten Reporter von „Life“ und „Newsweek“ und bald war Gertie ein us-weites Phänomen.

Nicht alle Küken schafften es in die Welt, fünf aber konnte Gertie sicher aus dem Ei holen. Da hatte sie längst Legendenstatus.

Die Zeitungsartikel wurden zu Büchern, die Geschichte Stoff für Kinderbücher und daraus wieder neue Artikel und schließlich Bronzeskulpturen am Riverwalk. Heute wäre Gertie ein Social Media Phänomen. Aber für die Milwaukeeens bleibt Gertie die unaufgeregte Ente, die tat, was sie tun musste, und wenn es auf einem morschen Baumstamm ist.

Gertie brauchte kein Vogelhäuschen mit von Stararchitekten designter Einkaufsmeile.

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