
Kleine Stadt, große Kulturgeschichte
Halloween ist hier doch größer, als ich vermutet habe. Es geht ja eigentlich um einen Termin am 31. Oktober, da ziehen dann, so war meine Kenntnis, als Gruselfiguren verkleidete Kinder von Haus zu Haus und sammeln – „Trick or Treat!“ – Süßigkeiten ein. Und im Kino kommt noch Michael Myers mit dem Küchenmesser – aber das ist eine andere Geschichte.
Tatsächlich ist Halloween hier präsent, seit ich im Land bin. Nicht so sehr im geschäftigen New York City, aber kaum war ich raus aus der Stadt, tauchten die ersten mit Spinnweben, Kürbissen und klapprigen Skeletten dekorierten Häuser auf. Das Geschäft mit Halloween geht gut einen Monat lang.
In Woodstock war heute großes Halloween-Fest im Stadtpark. Auf dem bei Filmfreunden sehr bekannten Pavillon spielte sich eine Band ein, überall waren Stände aufgebaut, wurden Kinder geschminkt und hausgemachte Törtchen verkauft. Im unter Filmfreunden ebenfalls sehr bekannten Opera House sammelten sich die kostümierten Bewohner zu einer großen Gespenster Gala.
Dick Tracy kommt aus Woodstock
Woodstock – nicht das mit dem legendär matschigen Boden, das ist im Staat New York – ist ein kleines Städtchen 50 Meilen nordwestlich von Chicago mit großer kulturhistorischer Bedeutung. Chester Gould hat in dieser Stadt 46 Jahre lang die Abenteuer seines Comic-Cops Dick Tracy gezeichnet, die ab Oktober 1931 als tägliche Strips erst im Detroit Mirror, dann auch in der Chicago Tribune erschienen, und die Comicsprache bis in die Neuzeit beeinflusst haben. Aus den Strips, die Gould bis 1977 zeichnete, wurden Comicalben, TV-Serien und Kinofilme. Der letzte kam 1990 von und mit Warren Beatty; Madonna spielte eine verruchte Nachtclubsängerin.
Ebenfalls eng mit Woodstock verbunden ist Orson Welles, dessen Film Citizen Kane auch heute noch von Feuilletonisten und Filmliebhabern als bester Film aller Zeiten gefeiert wird. In Woodstock ging Welles vier Jahre zur Schule. Vier Jahre sind nicht gerade viel, aber er hat mal in einem Interview auf eine entsprechende Frage geantwortet: „Ich vermute, das ist dann Woodstock, Illinois – wenn es irgendwo ist. Ich bin da zur Schule gegangen. Wenn ich versuche, an sowas wie eine Heimat zu denken, ist es dort.“
Im örtlichen Opera House traten zahlreiche Großstars ihrer Zeit auf: Ed Asner (den wir vor allem aus der TV-Serie Lou Grant kennen), Arlo Guthrie, Mickey Rooney, Dizzie Gillespie oder Paul Newman.
Jeder Tag ist Murmeltiertag
Und schließlich ist in Woodstock, Illinois, ein Film gedreht worden, der weder zu den besten aller Zeiten gehört, noch filmhistorisch eine herausgehobene Rolle beanspruchen könnte, der aber in westlichen Ländern in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Wenn uns ein Tag öde vorkommt, wie der andere, sprechen wir vom Murmeltiertag, die Amerikaner vom Groundhog Day.
Es geht in „Groundhog Day“, auf Deutsch Und täglich grüßt das Murmeltier (1993), um einen zynischen Wettermoderator, der in einer Zeitschleife gefangen ist und einen 2. Februar jeden Tag von Neuem durchlebt. Es ist der Tag, an dem in einer Stadt namens Punxsutawney (Pennsylvania) ein Murmeltier nach einem festen Ritual vorhersagt, wie das Wetter in den kommenden Monaten wird.
Es gibt diese Stadt und dieses Ritual in Pennsylvania tatsächlich. Aber Regisseur Harold Ramis gefiel die Stadt nicht. Ihr fehle das gewisse Etwas für seinen Film, ließ er seinen Location Manager Bob Hudgins wissen und bat um eine Alternative, wenn möglich in der Nähe von Chicago, damit er häufiger mal abends nach Hause fahren könne. Hudgins fand Woodstock
Der Film mit Bill Murray und Andy MacDowell hat in den vergangenen 30 Jahren nichts von seinem Charme eingebüßt, längst feiern auch die Menschen in Woodstock ihren Groundhog Day. Bee sprach mich darauf an. Eine ältere Lady von etwa 1,50 Meter Körpergröße und mit osteuropäischen Wurzeln. Sie sah mich mit meiner Kamera hantieren, sagte Hallo, wer ich denn sei und nahm mich dann einigermaßen resolut an die Hand und zeigte mir alle wichtigen Spots, die sich der Einfachheit halber alle um den zentralen Platz der Stadt gruppieren – bis auf die Pension, in der der Wetterfrosch jeden Morgen um 6 Uhr vom Radiowecker mit dem Sonny & Cher-Song „I got You Babe“ geweckt wird. Aber die hatte ich auf meiner Fahrt in die Stadt gleich als allererstes entdeckt – so groß ist Woodstock ja nicht.
Es war ein wunderbarer Tag mit all den Familien mit den vielen kostümierten Kindern, die sich auf was Großes freuten in dieser hingepinselten Kleinstadt, mit dem knackeblauen Himmel und den vielen Drehorten, die Erinnerungen wach riefen, die Bee mit Anekdoten aus einem Statistenleben anreicherte; ihr damals bester Freund stand in den Diner-Szenen hinter der Theke. Schade einzig, dass sich Bee nicht fotografieren lassen wollte.
Brauereien und Harley Davidson
Mittlerweile bin ich in Milwaukee, wo ich gleich über die nächste Filmkulisse stolperte. Das war aber Zufall. Mit Film hat mein Besuch hier nichts zu tun. In Milwaukee bin ich ein paar Tage, weil das eine dieser Städte ist, von denen ich immer wieder mal in irgendeinem Zusammenhang höre, die mir aber sonst nichts sagen. Zuletzt hielt die Republikanische Partei hier ihren Krönungsparteitag für die anstehende Präsidentschaftswahl ab, so wie ein paar Wochen später die Demokratische Partei in Chicago. Und weil ich doch ohnehin gerade in der Gegend bin, dachte ich, fahre ich halt mal hin und gucke.
Stadtrechte seit 1846, deutsche und skandinavische Einwanderer, über hundert Jahre sich ausbreitende Bierbrauereien, später Maschinenfabriken und der Spitzname „Machine Shop of America“. Heute hat die Metropolregion 1,6 Millionen, die Stadt an sich 577.000 Einwohner. Die Miller-Brauerei, die seit vier Jahren „Molson Coors Beverage Company“ heißt, und Harley Davidson sind zwei große Arbeitgeber. Viel gesehen habe ich noch nicht, aber mein abendlicher Rundgang durchs Viertel zeigt mir, die Häuser sind eher nicht so hoch, eine Skyline gibt es nicht. Dafür gibt es das Milwaukee Art Museum, das Santiago Calatrava gestaltet hat, derselbe Architekt, der das „Oculus“ am World Trade Center entworfen hat, jenen Terminalbau, der aussieht, wie das Skelett eines Dinosauriers oder – von oben aus meinem damaligen Hotelfenster – wie ein Auge.
Die Ähnlichkeit beider Bauten ist deutlich. Als ich in die Stadt reinfuhr, fiel mir der Bau gleich auf, prominent an der Küste des Lake Michigan gelegen. Und Schauplatz in Transformers 3 – Dark of the Moon (2011). Da doubelt der auffällige Museumsbau die Unternehmenszentrale eines undurchsichtigen Milliardärs – eine Art Elon Musk in gut aussehend (Patrick Dempsey spielt ihn). Der Film besticht nicht durch Handlung, er besticht visuell.
Und er beschert Milwaukee überraschend eine eigene Filmkulisse.


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