
Der Zauber der Bohne
Zum Abschied ging ich dahin, wo ich begonnen hatte in Chicago. In den Millennium Park. Zum bezaubernden, völkerverbindenden Cloud Gate.
Ich hatte zeitig mein Hotel geräumt, dort auf dem Zimmer vorher noch die restlichen Kaffeekapseln verbrüht und mir Downtown ein Parkhaus gesucht. Meine Vorstellung, Apple- oder Google-Maps würden mir schon zeigen, welches Parkhaus für mich das sinnvollste ist, erwies sich als trügerisch. Zum einen ist die Downtown unterkellert; durch den Lower Wacker Drive eine Etage unter der Erde kann man schnell mehrere Blocks überwinden, wofür man zu ebener Erde viel länger bräuchte. In The Dark Knight jagt Batman dort dem Joker nach, verliert sein Bat-Mobil und funktioniert dessen Rest zum Bat-Bike um.
Apple und Google unterscheiden aber nicht zwischen den zwei Ebenen, wissen nicht, ob Du gerade in der Unterführung bist oder oben auf der Straße und führen Dich also irgendwann um eine Ecke, wo keine Ecke ist, weil es die nur auf der anderen Ebene gibt. Außerdem unterscheiden die Kartendienste kaum zwischen öffentlichen Parkplätzen und solchen, die zu Hotelkomplexen gehören, mir also verschlossen sind. Nach dem dritten Flop hatte ich die Faxen dicke und erinnerte mich einer alten Menschheitstechnik: Augen auf machen. Und siehe, schon wies mir eine große Leuchttafel den Weg zu einem Public Parking.
Gedränge auf der Luxusmeile
Der Himmel war blau, die Ärmel kurz, ich ließ mich treiben. Das Ziel war grob das Hancock Center. Das ist in der markanten Chicagoer Skyline das andere schwarze Hochhaus mit den zwei weißen Antennen auf dem Dach, anders aber als der streng geometrisch gestaltete Willis Tower mit konischer Silhouette. Ich bin da 1978 mit meiner Reisegruppe vom Kölner Amerika-Haus vorbeigefahren und habe ein Foto gemacht. Mir reichte das heute als Besuchsgrund. Ausgerüstet mit einem Americano Grande von Starbucks schlenderte ich die North Michigan hinunter, die das Äquivalent zur New Yorker Fifth Avenue ist und hier nur „The Magnificent“ genannt wird.
Es war Samstag, die Bürgersteige brechend voll und, wie die Fifth, eher langweilig, wenn man nicht darauf gepolt ist, viel Geld für Anziehsachen mit angesagtem Logo auszugeben – neben Schuhen von Nike und Geschmeide von Tiffany’s bekommt man dort heute auch Fast Fashion von Zara. Aber ich kam an der Fourth Presbyterian Church vorbei, in der 1997 Cameron Diaz und Dermot Mulroney heiraten, nachdem es Julia Roberts über zwei Filmstunden lang in My best Friend’s Wedding nicht gelungen ist, diese Ehe zu verhindern. Auch stellte ich fest, dass ich die paar Fotos, die damals bei unserem Zwischenstopp auf dem Weg nach Seattle hier entstanden sind, allesamt auf der North Michigan gemacht habe. Damals hat es geregnet und die Straße sah ganz anders aus, viele Gebäude gab es noch nicht – aber jetzt, 46 Jahre später, weiß ich wenigstens, was das für Gebäude sind, die ich damals, klick, gedankenlos fotografiert habe.
Hoffen auf das Foto mit The Bean
Ich tat alles, um Chicago nicht früher als notwendig verlassen zu müssen. Und so stand ich endlich wieder im Millennium Park. Den gibt es erst seit 2004 und man kann stundenlang über die Kunstwerke, die dort stehen, schwärmen, von der Weitläufigkeit des Parks singen, über Frank Gehrys Veranstaltungsfeld diskutieren. Aber am Ende wollen alle doch nur zum Cloud Gate. Diese zehn Meter hohe, 20 Meter lange und 13 Meter breite Skulptur ist die Kunst gewordene Wiedervereinigung der Menschheit, nachdem Gott sie im Turmbau zu Babel zornig in Tausende unterschiedliche Sprachen zersplittert hat. Ersonnen hat das Cloud Gate Anish Kapoor, ein britischer Künstler. Die Locals nennen das Cloud Gate schlicht „The Bean“. Weil es aussieht, wie eine Bohne; wie eine chromglänzende Bohne, deren reflektierende Oberfläche die Welt und die Menschen um sie herum verzerrt; ähnlich, wie ein Spiegelkabinett auf dem Rummel – nur erhabener.
„The Bean“ zieht alle an. Kinder und Erwachsene. Frauen, Männer und alle dazwischen. Moslems, Juden, Christen, Buddhisten, Anzugträger und Käppie-verkehrt-rum-Träger, Kiffer und Avocadosmoothie-Trinker, Militaristen und Pazifisten, Homos und Heteros, Naturwissenschaftler und Literaten, Pragmatiker und Philosophen – alle wollen mit der Bohne spielen, mit ihr posieren. Ich könnte mich da stundenlang aufhalten und den Leuten zusehen, wie sie irre Verrenkungen aufführen, fuchtelwinken, Selfie-Grimassen neu justieren und dabei mit Standbein und Spielbein experimentieren, nur um ein einzigartiges Foto mit sich und „The Bean“ hinzubekommen. Alle wollen das. Ein Amerikaner, Mitte 40, stöhnte sprachlos, „this thing is marvelous“, eine weißhaarige Französin kiekste fröhlich, c’est incroyable.
Je nach Lichteinfall wirkt „The Bean“, wie eine Krümmung im Raum-Zeitkontinuum. Und für einen kurzen Moment sind die Menschen alle gleich und ganz friedlich.


2 Kommentare
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Markus
Herrlich, danke! Vor ein paar Jahren war ich in Chicago auf einer Tagung, aber hatte nur kurz Zeit und habe alles verpasst, was Du beschreibst – aber jetzt habe ich wenigstens einen ungefähren Eindruck davon, was ich alles verpasst habe…