Farewell
Sind wirklich neun Wochen vergangen? Ich sitze am Flughafen, starre auf ein Panoramafenster, dahinter Sonne, der Schlauch – das ist die ausfahrbare Brücke, über die wir später in die Maschine kommen –, links am Fensterrand das Leitwerk einer Korean Air-Maschine. Das alles unterscheidet sich nicht von der Situation am 27. September. Neun Wochen?
Natürlich waren es neun Wochen. Ich muss nur auf die Strecke auf meiner Google-Map gucken. Dann weiß ich, dass es neun Wochen waren. Regen in New York, Pizza in Mystic, der weiße Hai auf Martha’s Vineyard, hysterische Erziehungsberechtigte beim Whalewatching auf Cape Cod, beautiful New England und der Indian Summer, die zeitlose Entspanntheit der Niagara Fälle, wonderful Chicago mit der völkerverbindenden „Bean“, die grandiose Great Lake Area mit einer Ecke schöner als der anderen, Großstädte mit Weltkunst, aber ohne Postkarten, die Weite der Great Plains, die Magie des Devil’s Tower, das große, weite, leere Montana mit den schönen kleinen Städten, die sich seit den Pioniertagen nur unwesentlich verändert haben, die rote Erde von Utah in Steinbögen und Mesas, die Majestät des Grand Canyon, das schrille Las Vegas und Zurück in die Zukunft in Los Angeles.
Das alles in neun Wochen? Yep!
Dodge ist weg. 9.233 Meilen haben wir zusammen verbracht. Er hat mich sicher transportiert, hat aufgepasst, wenn ich unaufmerksam war, abgebremst, wenn der Vordermann langsamer wurde, beschleunigt, wenn die Straße wieder frei war. Als ich ihn bei ALAMO wieder abgab, war das wie der Moment in Barry Levinson Rain Man, als Tom Cruise sich am Ende einer langen, aufwühlenden gemeinsamen Reise von seinem autistischen Bruder – Dustin Hoffman – verabschiedet, selber hoch emotional ist, während Raymond kaum eine Regung zeigt. Als Dodge da – regungslos – als eines unter vielen in der Schlange der abgegebenen Autos stand, ich seine Schlüssel nicht mehr in der linken Hosentasche fühlte, war das der Moment, der mehr als jedes Flugticket symbolisierte: Es ist vorbei. Das war echt kein schöner Moment!
Jetzt sitze ich am LAX, in diesem Moment rollt die Boeing 747 an den Schlauch, über den in etwas mehr als einer Stunde das Boarding beginnt. Die Qualen der Sicherheitsschleuse habe ich schadlos überstanden. Weil ich den Sicherheitsmann in seiner gelben Warnweste nicht gleich verstand fragte ich nach, was mit meinen Schuhen sei. Er fragte mich, ob ich 57 sei. Nein, sagte ich, 63. Dann ziehen Sie die Schuhe aus. Und den Gürtel. Dann kam noch eine Frau, machte einen Abstrich von meiner Handfläche und scannte den an ihrem Computer?? Ich bin wirklich lange nicht mehr geflogen.
Laut Boardingpass sitze ich nun auf Platz 27C. Nachdem die LUFTHANSA meinen teuer erkauften Beinfreiheit-Sitzplatz kurzerhand anders vergeben hat, hatte mir am Telefon gestern ein Mitarbeiter erklärt, er würde eine Nachricht ins System zu meinen Booking-Unterlagen setzen, dass man mich auf die Business-Class upgraden soll. Ich brauche keine Business-Class, ich brauche nur Platz für meine Beine; aber gut. Heute am Schalter war niemanden etwas von einer Nachricht in meinen Booking-Unterlagen bekannt. Der LUFTHANSA-Mitarbeiter gestern am Telefon hat mich kalt angelogen – mit nur wenig Zynismus in der Fantasie sehe ich die Fortbildungskurse der LUFTHANSA, wenn die Callcenter-Mitarbeiter lernen: „Vergesst den einzelnen Holzklassen-Passagier. Bei denen macht nur die Masse Kasse. Diese Leute sind undankbar, wollen immer mehr mehr mehr. Also: Nölt der Typ am Telefon rum, sagt irgendwas mit Upgrade und Business-Class und schickt ihn weiter. Ihr seht und hört den eh nie wieder; kann Euch egal sein, was aus diesen Leuten wird. In der ersten und der Business-Klasse ist das was anderes, aber Holzklasse: Masse macht Kasse, der Einzelne interessiert nicht. Merkt euch das!“
Aber das ist natürlich zynisch und wird der LUFTHANSA nicht gerecht. Das war einfach nur eine Ausnahme und Buchungsfehler können ja mal passieren.
Am Schalter schaute ich eine viertel Stunde lang zu, wie erst eine, dann zwei zweifelnde Gesichter auf der Tastatur herum tippten, mehrmals nachfragten, sich dreimal meine Buchungsbestätigung zeigen ließen und schließlich mit 27C um die Ecke kamen – wenn ich den Sitzplan richtig im Kopf habe, ist das wie 27H, nur auf der anderen Flugzeugseite. Nun denn. Ich möchte diesem Kranich nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, als nötig.
Es war schließlich ein schöner, interessanter, abwechslungsreicher, beeindruckender, bisweilen atemberaubender, vielfältiger und überraschender Urlaub, der mein Amerikabild justiert und meiner Selbstkenntnis ein paar neue Facetten beigegeben hat – und noch lange in meinem Kopf nachhallen wird.
Mein Flieger wird 30 Minuten Verspätung haben, der Flug etwa elf Stunden dauern. Dann warte ich auf meinen Koffer, dann auf die S8 Richtung Wiesbaden und dann werde ich mich wieder an mein Fahrrad gewöhnen und sicher ein paar Kilo abspecken müssen – wenn Weihnachten vorbei ist.
Es war eine großartige Zeit. Und jetzt rollen Tränen. Farewell!
2 Kommentare
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Markus
Ach nee, vorbei? Die letzten Posts habe ich per binge-reading gelesen, ich hing ein bisschen hintendran, aber dass jetzt alles vorbei sein soll…? Manno. Danke für die tollen Berichte und dass Du mich an Deinem US-Trip hast teilhaben lassen, das war wirklich super. Lehrreich, interessant, überraschend, lustig, gut geschrieben, das Role Model der persönlichen Reisetagebücher. Das wird mir fehlen… aber jetzt komm gut nach Hause, mein Kleener, und melde Dich, wenn Du Dich wieder eingelebt hast!