Navajo Point, Grand Canyon, Arizona
Christoph,  Fauna,  Reisen

Seid gegrüßt, Erhabenheiten

Auch schon wieder 35 Jahre her, dass ich hier war: Grand Canyon 1989. Damals machten wir eine Reise über die Route 66, hatten einen Abstecher nach Phoenix, Arizona, zu unserem Amerika-Korrespondenten für Radio Charivari München gemacht und auf dem Rückweg Station am Grand Canyon. Ich weiß nicht mehr, wie und wo genau. Eigentlich weiß ich vor allem noch, wie tief beeindruckt ich von der Größe des Canyons war. Das hatte keine Kinoleinwand je vermitteln können.

Erstaunlich, das ich dann heute wieder einen Atemaussetzer hatte, als ich über eine Brücke fuhr, an deren einer Seite sich der South Rim auftat. Ich war über die Route 64 gekommen, hatte schon die Einfahrt zum Nationalpark passiert – mit diesem Jahresausweis für alle Parks in den USA ist das wirklich ein unkompliziertes, schnelles Unterfangen – und gondelte mit den erlaubten 45 Meilen durch ein Waldgebiet, mein Navi sagt mir, ich sei in 23 Minuten am Ziel, am Straßenrand stehen zwei Vierbeiner mit großen Ohren und wissen nicht, ob sie über die Straße wollen oder lieber doch nicht. Ich bremse, warte, dann verziehen sie sich – sind keine Dickhornschafe, vielleicht Mule Deers oder Elks. Dann lichtet sich der Wald, ich rolle über die Brücke … Godzilla, der in mein Seitenfenster guckt, hätte mich nicht mehr überraschen können. In 35 Jahren verliert sich offenbar der Sinn für schiere Größe.

Navajo Point, Grand Canyon, Arizona
Navajo Point, Grand Canyon

Eigentlich hätte ich stehen bleiben müssen, gucken. Ging nicht, auf solchen Highways, die innerhalb der Nationalparks Scenic Drive heißen, ist das Parken am Rand verboten, was logisch ist, weil nämlich sonst die Straße binnen Minuten verstopft wäre. Wenige hundert Meter weiter wurde rechts ein Parkplatz angeboten, auf den ich rollte, ausstieg und mich freute. Was für ein Anblick – und Ausblick. Aber vor allem Anblick. Ich stand nicht unten, am Fuß der Erhabenheit, wie in den vergangenen Tagen immer. Jetzt stand ich oben. Sehr weit oben. Ja, ich weiß wieder, das war vor 35 Jahren auch einer dieser raren Momente, wie damals am Petersdom, oder kürzlich am Delicate Arch. Fanfaren erklangen, Jubelgesänge. Es ist ein demütiges Gefühl, hier oben zu stehen und mehr als tausend Meter tief in zig Millionen Jahre Erdgeschichte zu blicken.

Ich checkte erstmal ein. Die Yavapai Lodge liegt im Parkgelände und verteilt sich weitläufig. Im Haupthaus sind Empfang, Restaurants und das WLAN. Gegenüber ist ein großer, ziemlich gut sortierter Supermarkt, der in der Gemüsetheke sogar eine „Vegetarisches Platte“ anbietet – das ist eine Plastikschale mit Cocktailtomaten, Blumenkohl, Broccoli, Selleriestangen und geschälten Möhren. Die Zimmer der Lodge verteilen sich auf dem Gelände. Die Superior Accommodations stehen nahe an der Schlucht, meine steht im Wald etwas tiefer im Park. Von hier zur Schlucht: fünf Minuten mit dem Auto, zehn zu Fuß.

Vegetarisches Platte
Vegetarisches Platte im örtlichen Supermarkt

Was beide Unterbringungen eint: Es gibt kein WLAN. Für mich ein Schlag, meine Routine funktioniert nicht. Auf einer Reise acht Wochen quer durch die USA, von einer Stadt zum nächsten Motel in den nächsten Nationalpark, bei der sich kaum eine Routine entwickeln konnte, ist durchbrochene Routine schon Routine. Ich kann also nicht spät abends auf dem Bett meinen Blog schreiben und publizieren? Dann ziehe ich halt ins Haupthaus unters WLAN in einen Sessel um.

Davor habe ich einen Abstecher gemacht. An die Klippe. Es gibt am Abgrund des Canyons abends keine Strahler, die die schwarze Nacht erhellen, damit der werte Gast nicht übers Stöckchen stolpert und das Parkmanagement auf Millionen Dollar Schadenersatz verklagt. Es ist da stockfinster. Das dünne Licht des Häuschens mit den Restrooms verliert sich schnell. Und dann stehst Du da mit Deiner Taschenlampe in der Hand, vor Dir ist erst Weg, dann nur noch ein paar dicke Steine, dann Nichts mehr und dann ein paar Bäume, deren Krone auf der Höhe Deiner Füße sind. Da geht es dann schon steil runter. Kein Zaun, kein reflektierendes Achtung-Schild. Das ist bemerkenswert, weil ich ansonsten hier dauernd gewarnt werde, auf Bildschirmen, in den Infoflyern: Auf Wanderungen den Canyon hinab immer ausreichend Wasser dabei haben (was auch jetzt im November gilt bei strahlenblauem Himmel und 6 Grad Höchsttemperatur), gut überlegen, wie weit man wandern will, zurück – also hoch – müsse man doppelt so viel Zeit einrechnen, wie für den vorherigen Abstieg; keine Steine in den Canyon werfen – „Throwing rocks hurts hikers“. Aber hier, am Abhang im Dunkeln: Nichts.

Wunderbar.

Ich werde Zeuge von etwas ebenso Erhabenem wie dem Canyon, der auch in mucksmäuschenstiller Dunkelheit Ehrfurcht gebietet: Ohne störendes Licht hier unten entfaltet sich über mir die Milchstraße.

Die Natur ist eine fantastische Künstlerin.

Sternenhimmel über dem Grand Canyon, South Rim, Arizona, am 20. November 2024
Sternenhimmel über dem Grand Canyon

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