Merrill, Wisconsin
Arbeitsplatz,  Christoph,  Gastronomie,  Reisen

Go West

Zum Motto: Ich weiß nicht, was kommt gab es heute einen klassischen Reisetag. Mit allen Hochs und Höhers. Beim Zähneputzen verabschiedete sich meine elektrische Zahnbürste von dieser Reise. Beim hinteren oberen Weisheitszahn stellte sie den Betrieb ein. Es war Sonntagvormittag und das heißt in God’s own Country: Die Supermarktkette Meijer hat geöffnet, weil sie immer geöffnet hat, rund um die Uhr. Ich habe mir also gleich eine neue Zahnbürste gekauft – keine elektrische, die müsste ich ja in Deutschland wegen der unterschiedlichen Stecker gleich wieder entsorgen (oder kostenintensiv umbauen lassen), sondern eine handbetriebene. Sowas habe ich seit 23 Jahren nicht mehr benutzt.

Die schon in Plastik eingeschweißte Zahnbürste – einer Marke, die auch in deutschen Drogerien raumgreifend vertreten ist – wurde von einer hageren, nicht fröhlich aussehenden Yvonne hinter dem Kassenlaufband in eine Plastiktüte verpackt und in meinen Einkaufswagen gelegt. Dorthin hatte sie zuvor schon die bei der Zahnbürstengelegenheit ebenfalls rasch besorgten Beverages gewuchtet, die ich unterwegs oder abends in einsamen Motels gebrauchen kann.

Es ist nicht alles Gold, was lächelt

Dieses Bild von Yvonne mit der Plastiktüte und ihrem in stillem Zorn erstarrten Gesicht gehört zu den Momenten auf meiner Reise, bei denen ich über mein Gastland auch mal abkotzen möchte. Ich erwähnte vor ein paar Tagen schon das mich irritierende Werbefernsehen mit dem großen Pharmaanteil, Stichwort: Opioidkrise. Jetzt also
a.) wurde meine in Plastik eingeschweißte Zahnbürste in eine Plastiktüte gepackt.
b.) stand eine ältere Dame am Ende des Kassenbandes und ging am Sonntagvormittag einem Sinnlos-Job nach.

Über die Tüteneinpacker in den Supermärkten habe ich mich schon in den 70er Jahren gewundert. Den Amerikanern meiner Generation sind sie offenbar zur lieben Gewohnheit geworden, dass sie darauf nicht verzichten wollen. Ich schätze, Meijer würde diesen Kostenfaktor liebend gerne einsparen; nicht zufällig ist der Bereich der Selbstbedienungskassen in amerikanischen Supermärkten längst größer als die Zahl der noch mit Menschen besetzten Kassen. An diesen Selbstbedienungskassen wickeln Leute ihre Einkäufe ab, die 20 Jahre jünger sind als ich. Ich probiere das immer mal wieder, habe aber innerhalb von sieben Tagen fünf unterschiedliche Strichcode-Kassensysteme erlebt, deren immer andere Handhabung mich tatsächlich überfordert. Ich gehe also, wie jeder Weißhaarige, an die gute alte Supermarktkasse. Da sitzt dann Jenny, ist begeistert, dass ich sie frage How are You, und wünscht mir einen wonderful Day, honey. Und dahinter verpackt Yvonne meine Zahnbürste in den Einkaufswagen. Aber, hey, immerhin kann sie mit diesem dröhnend eintönigen Job ihr Leben finanzieren, das augenscheinlich nicht sehr fröhlich ist.

Billigere Kräfte, effizienteres Quartalsergebnis

Yvonne findet nur noch solche Jobs, weil überall Ausbildungs-Jobs abgebaut werden. Im Motel oder Inn werden die Zimmer nicht mehr täglich gemacht. Früher musste man Bitte nicht Stören-Schilder an die Türklinke hängen. Nicht mehr nötig. Kommt eh keiner. Nun ist mir das ganz recht, dass nicht dauernd hinter mir her geräumt wird. Aber wieviele Jobs gehen da verloren, damit die Betreiber ihren Betrieb effizienter kalkulieren können? Am Frühstücksbüffet stehen Waffelteig-Spender. Unter die hält man wie beim Getränke-Automaten einen Plastikbecher, in den quillt der zähfließende Teig. Den gießt man in ein ununterbrochen aufgeheiztes Waffeleisen, klappt zu und nach zweieinhalb Minuten schrillt ein infernalischer Lärm durch den Frühstücksraum, der signalisiert, dass die Waffel fertig ist. Die Scrambled Eggs kommen aus dem Tetrapack. Früher haben das alles mehrere vom Hotel ausgebildete Fachkräfte vorbereitet und hergerichtet. Heute wischt eine gebeugte ältere Lady die Krümel von der Anrichte, füllt die vorgefertigte Masse in den Waffelteigspender und die Kaffeekanne wieder auf, sieht unglücklich aus und wünscht aber jedem Gast fröhlich einen Guten Morgen und Have a wonderful Day. Bezahlt werden diese Menschen nach Mindestlohn, erwartet wird, dass der Gast ein großzügiges Trinkgeld gibt – der Gast soll die Sevicekräfte bezahlen, nicht der Betreiber.

Die Reste: jede Plasikgabel, jedes Plastikmesser, jeder Plastiklöffel einzeln in Plastik eingeschweißt. Die Kaffeebecher wasserdicht beschichtet, vor jedem Hotelfrühstücksgast stehen im Schnitt drei Pappteller. Das endet alles in derselben Mülltonne und wird wohl irgendwo von weiteren unglücklichen Hilfskräften wieder getrennt. Schließlich weisen mich die Motels und Inns ja dauernd darauf hin, welche Umweltstandards sie in Sachen Energiesparen, Luftreinhaltung, Ressourcennutzung locker überbieten.

So, wie ich es mir vorstelle

Ich habe einen langen Reisetag hinter mir, an dem ich zwischen Tempomat und Abstandhalter viel Zeit hatte, auf schnurgeraden Highways meine Gedanken kreiseln zu lassen. Wahrscheinlich bin ich einfach nur naiv und verreise zu selten. Weil ich sonst wüsste, dass das längst Alltag ist, was ich noch überraschend finde. Siebeneinhalb Stunden war ich heute in meinem fahrenden Sofa unterwegs, 410 Meilen (659 Kilometer). Und der Tag hatte alles, auf das ich mich in diesem Urlaub gefreut habe.

Die Mackinac Bridge über Lake Huron und Lake Michigan
Die Mackinac Bridge über Lake Huron und Lake Michigan

Von Traverse City war ich nach Norden gefahren, hatte über die elegante Mackinac Bridge, die den Punkt überspannt, an dem sich Lake Huron und Lake Michigan die Hand geben, die Peninsula verlassen und war nach Westen abgebogen. Von da an: Hier mal eine Linkskurve und da mal eine Rechtskurve, beiderseits der Straße der Hiawatha National Forest. Und sonst nicht viel. Kleinere Ortschaften boten sich für eine Snackpause an, aber nicht zum länger Verweilen. Hier gibt es keinen Indian Summer, hier dominieren Nadelbäume. Hier gibt es keine Filmkulissen, hier gibt es Straße und Bäume; und noch viel zu viele Kilometer nach Minneapolis, meinem nächsten Etappenziel, das ich morgen erreichen will.

Die Sonne steht schon tief

Ich hatte also insgesamt viel Strecke, viel Zeit zum Grübeln – siehe oben – und zum Landschaft an der Frontscheibe vorbei ziehen lassen. Und habe das sehr genossen. Ich war auf Highways unterwegs, auf denen ich nachmittags Minuten lang kein anderes Auto sah. Je tiefer die Sonne stand, desto schöner wurde das Windschutzscheibenpanorama. Im Radio erfuhr ich, dass der große Halloween-Trend in diesem Jahr ist, sich als Horrorfigur aus einem Kinofilm zu verkleiden. Die Nachrichten protokollieren jeden Wahlkampfauftritt der beiden Präsidentschaftsbewerber und ein britischer Insektenforscher beschrieb mit Musikinstrumenten sehr unterhaltsam das Liebesleben der Zikaden.

Freeway 64 nach Westen
Highway 64 nach Westen

Und dann stand die Sonne sehr tief und ich hatte immer noch keine Unterkunft für die Nacht. Meine Vorgabe lautet: Ich möchte nicht nach Einbruch der Dunkelheit, also nach 18 Uhr, nach einem Motel suchen müssen; suchen bei Dunkelheit im Neon-Flimmern der Gewerbegebiete rund um die Städte ist unübersichtlich und ich bin nicht mehr 20. Heißt: Um fünf Uhr sollte ich ein Zimmer in Aussicht haben. Zum Glück habe ich die Zeitzone wieder überschritten, aus vier Uhr wurde drei Uhr und so gewann ich etwas Zeit. Ziemlich genau mit Sonnenuntergang kam ich in die Outskirts von Merrill, Wisconsin. Und da leuchtete neben dem McDonald’s eine blaue Travelodge. Da bin ich nun und zwischenzeitlich hat sich – Merrill ist eine amerikanische Kleinstadt – eine Polizeistreife für meinen Dodge interessiert. Das konnte ich von meinem Zimmerfenster aus beobachten. Vielleicht Routine, vielleicht haben sich aber auch die beiden Jungs an der Rezeption gedacht, dass ein Typ mit fünf Vornamen und so einem Auto verdächtig sein muss, und ihre Verwandten bei der örtlichen Polizei verständigt. Ich wurde nicht weiter behelligt, bleibe aber ein Fremder in diesem Land.

Über Merril weiß Wikipedia vor allem zu sagen, welche Interstates sich hier kreuzen und dass für den Frachtverkehr eine Eisenbahnstrecke der Canadian National Railway (CN) hier durchfährt.

Für mich bleibt Merrill, WI., ein Ort, an dem alles geklappt hat. Ich habe meinem Bauchgefühl vertraut und ohne präzise Reiseplanung rechtzeitig einen Schlafplatz bekommen, bin nur drei Stunden vor Minneapolis und hatte einen schönen Tag auf meinem fahrenden Sofa.

Kleine Reisestatistik: Ich habe die Zeitzone gewechselt, bin wieder auf Chicago-Time. Weil am selben Tag in Deutschland die Sommerzeit geendet hat, bin ich wieder sechs Stunden in der Zeit hinterher.
In meinem Dodge Durango GT habe ich bisher 94 Stunden verbracht und dabei 4.015 Meilen (6.462 Kilometer) zurückgelegt

3 Kommentare

Anderer Meinung? Hier können Sie sie formulieren,

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.