Insta-Spot bei Stowe, VT
Christoph,  Frauen,  Internet

Bitte ein Foto, aber ohne Parkplatz

What a day: Touristen-Zeuch. Die Röte ins Gesicht treibende Erkenntnis. Slapstick an der Bar zwischen sechs jungen Frauen.

Natürlich habe ich mir die Eisfabrik von Ben & Jerry’s angeschaut. Laut der Tourguide heute gibt es weltweit nur drei Fabriken. Zwei in Vermont für den Weltbedarf, eine in den Niederlanden für den europäischen Raum. Einigermaßen beeindruckend. Ben & Jerry’s ist eine klassische amerikanische Gründergeschichte. Zwei dicke Freunde, im Schulsport immer die, die als letzte in die Mannschaft gewählt werden, eröffnen 1978 in einer ehemaligen Tankstelle einen Eisladen. Ohne große Ambitionen. Ein Jahr später sind sie immer noch da, ihre ausgefallenen Eissorten erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Heute liefern sie in die ganze Welt aus. Ich habe sie an den Theken im Kino kennengelernt, wo es neben meiner Langnese-Schwärmerei plötzlich das Milcheis mit Teigstückchen gab, das mit Comic-Kühen auf grüner Comic-Wiese unter blauem Comic-Himmel warb. Und mit ausgefallenen Geschmacksrichtungen. Dass es die vorher auch schon im Supermarkt gab, war mir nie aufgefallen.

Die Doppeldeutigkeit des englischen Euter

Die zur Eisdiele umfunktionierte Tankstelle stand in Burlington, das ist die Universitätsstadt Vermonts mit rund 45.000 Einwohnern. Die Fabrik steht heute in Waterbury, gehört in die große Konzernwelt von Unilever und sobald man das Gelände betritt, riecht es nach Vanilleeis. Das Unternehmen legt großen Wert auf seine laut Selbstauskunft ausgefeilten umweltfreundlichen Prozesse, in denen alles, was geht, wiederverwertet wird. Über den Eistransport in alle Welt auf mit Schweröl betriebenen Tankern schwieg sich die Tourguide betont aus, auch darüber, was es an Energie kostet, die ganze Anlage mit Vanille zu beduften. Ich habe innerlich etwas ablehnend auf die Tourguide reagiert, die sehr routiniert ihren Tourguide-Text performte, uns mit unzureichend kaschierter Herablassung angrinste und in ihre Führung lauter konzerneigene Kuh-Witze einbaute, in denen zumeist der englische Begriff für den Euter, the Udder, eine wesentliche Rolle spielt. Phonetisch sind sich the Udder und the Other, „der andere“, sehr ähnlich; warum also hat ein Melkschemel nur drei Beine? The cow has the udder.

Flavor Graveyard bei Ben & Jerry's

Die Fabrik ist für einen Weltkonzern mit Weltvertrieb überraschend klein, wirklich viel zu sehen gab es nicht. Aber es roch nach Vanille und es gab lecker Eispröbchen. Die Tour endete im Giftshop, in dem es die obligatorischen T-Shirts, Tassen, Handtücher und Autokennzeichen gibt, und erlebte ihren eigentlichen Höhepunkt, als schon alles gelaufen war. Dass man das Eisunternehmen nicht über eine Tourguide charakterisieren sollte, die vielleicht einen schlechten Tag hatte, macht der sympathische Flavor Graveyard deutlich. Selbstironisch hat das Unternehmen auf einem von weißen Zäunen umrahmten Friedhof ehemals prominente oder auch nur experimentelle Geschmackssorten zu Grabe getragen, die mal eine Zeit lang angeboten wurden. Grabsteine künden in Versform von den jeweiligen Versuchen. Die Sorte Cool Britannia zum Beispiel wird so zu Grabe getragen:

A flavor so smashing
& yet it fouled out;
Strawberries and shortbread –
a love match devout.
But sadly it missed
all the fame it deserved,
a bit too much English
put into the serve.

Nach nicht mal einer Stunde war der Vanille-Zauber vorbei, an der Theke, an der es für die Tourmitglieder einen großen Eisbecher umsonst gab, hatte sich eine sehr lange Warteschlange gebildet. Das schenkte ich mir. Ich hatte andere Ziele.

Auf den Bildausschnitt kommt es an

Ich hatte von einem schönen Platz gelesen, Indian Summer at ist best. Eine markante weiße Kirchturmspitze inmitten feuerstrahlender Herbstfarben. Keine Historic Landmark, kein Museum, kein architektonisches Wunder, einfach ein schöner Platz. Das wollte ich mir angucken – und ein Foto machen. Meine Reise hangelt sich ja entlang an allerlei Äußerlichkeiten. Filmkulissen sind Äußerlichkeiten, die fotografiert werden sollen. Solche Ikonen besuche ich von Osten nach Westen und zwischen diesen Wegmarken, so der Plan, erwacht langsam meine eigentliche Urlaubsreise zum Leben, auf der ich dann zunehmend auf einfach schöne Plätze treffe. Das ist wie beim Film: Kino ist in erster Linie ein Medium zum Gucken. Vorrangig sind Kameraarbeit und Ausstattung. Einfühlsame Regisseure und Schauspieler füllen sie dann später mit Leben.

Insta-Spot bei Stowe, VT

Ich kam also zu dem schönen Platz mit der Kirche. Erster Eindruck: Die Kirche ist eingerüstet, wird offenbar renoviert – also nur ein zweitschönstes Motiv. Zweiter Eindruck: Autoschlangen und ein Parkplatz, extra angelegt für die Horden von Selfie-Touristen, die eben diese weiße Kirchturmspitze im Indian Summer-Feuer mit sich selbst im Vordergrund fotografieren wollen. Das Motiv war offensichtlich nicht der romantische Geheimtipp, von dem ich im Internet(!) gelesen hatte (das hätte ich eigentlich besser wissen müssen). Ich war hier nur ein weiterer dieser Fototouristen, deretwegen Gemeinden in Österreich und Japan schon Bauzäune vor ihre Sehenswürdigkeiten gestellt haben, weil sie von Touristen, die kein Geld in Boutiquen, Cafés und Restaurants ausgeben, überrannt werden. Es trieb mir die Röte ins Gesicht. Meine Bilder machte ich trotzdem und bedauerte, dass die Kirche eingerüstet war.

Zum Dinner war mir ein Laden in Waterbury aufgefallen, der „Pro-Pig“ hieß und weder nach Tischdecke noch nach fettiger Burgerbude aussah. Ich ging rein und war gleich wieder einer von Vielen. Vor der Waitress, die einem einen Platz zuteilt, stand ein Pulk hungriger Wochenendausgeher. Einmal mehr erwies sich mein Status als hilfreich. Weil ich alleine esse, setzen mich die Verantwortlichen gerne an die Bar. Da nehme ich keinen Tisch für mindestens zwei weg und erzeuge auch kein die Laune schmälerndes Mitleid, weil ich an einem Zweiertisch alleine sitze. Ich meinerseits sitze gerne an der Bar. Da gibt es so viel zu gucken, viel mehr als bei den Cliquen am Sechsertisch, die sich gegenseitig mit ihrer Lautstärke übertrumpfen, oder in den leeren Gesichtern der Paare, die sich schweigend gegenübersitzen.

Der Laden erwies sich als grandiose Grill-Bar mit etwas zu lauter Musik und herzlichem Personal. Zwei Minuten, nachdem ich eingetreten war, saß ich an der Bar. Ich wurde zwischen fünf jungen Frauen platziert, drei links von mir, zwei rechts. Wäre das ein Film, entwickelte sich daraus eine für die Hauptfigur peinliche Slapstickszene zu Beginn einer Romantic Comedy, in der deutlich wird, dass er und Frauen unterschiedliche Sprachen sprechen. Und ich wäre 30 Jahre jünger, damit man mit mir zwischen fünf Endzwanzigerinnen überhaupt etwas erzählen kann. Ich bin aber 63 und die Damen quittierten meine Anwesenheit mit beiläufig desinteressiert abgewandten Gesichtern. Ich bestellte ein Bier.

Plötzlich quatscht Obama dazwischen

Slapstick schaffte ich mit der sechsten jungen Frau. Die stand hinter der Theke. Ich hatte gerade den ersten Bissen meines bunten Salats mit Rinderstreifen – eigentlich Rinderstreifen mit etwas Salat – im Mund, als die junge Frau mich anstrahlte und fragte, ob ich die Soßen einordnen könne, die in für Pro-Pig formatierten Plastikflaschen vor mir standen. Bevor ich antworten konnte, begann sie zu erklären. Ich verstand zwischen der etwas zu lauten Musik etwa jedes dritte Wort, was zum rudimentären Verständnis des Gesagten ausreichte. Ich mimte Aufmerksamkeit. Plötzlich aber waren meine Hörgeräte mit einer fremden Stimme erfüllt. Nun verstand ich gar kein Wort der Soßenerklärung mehr, war aber so verwirrt ob dieses plötzlichen Crescendo in meinen Ohren, dass ich einfach weiter interessiert guckte und so tat, als könne ich ihren Ausführungen folgen.

Pro-Pig in Waterbury, VT

Irgendwas musste mein Handy beeinflusst haben – Handy und meine Hörgeräte sind über Bluetooth gekoppelt, Musik, die dort läuft, höre ich gleich über die Hörgeräte, eigentlich praktisch, in diesem Falle höchst daneben: auf Instagram, wo ich einige Minuten zuvor ein Bild hochgeladen hatte, war durch irgendeinen Kontakt ein Video gestartet worden, Barack Obama beklagte in Tränen aufgelöst die Lügen, mit denen der republikanische Präsidentschaftsbewerber seinen Wahlkampf betreibt – die Szene war, ich glaube, zwei Tage alt. Ich hatte also Barack Obama im Ohr und die Barfrau mir gegenüber. An dieser Stelle mein Handy aus der Jackentasche fummeln und gucken, was da gerade schief läuft, empfand ich als ausgesprochen unhöflich. Ich tat also so, als hörte ich zu und merkte dann an ihrer Sprachmelodie, dass sie mir jetzt eine Frage stellte. Ich antwortete irgendwas in übertrieben deutschem Akzent und die eben noch fröhlich zugewandte junge Frau hinter der Theke zog indigniert von dannen. Tatsächlich: unterschiedliche Sprachen.

Aber der Laden und das Essen waren super. Das Bild mit dem eingerüsteten Kirchturm schön bunt. Und das Eis so gut wie zu erwarten war. What a day.

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