Der Spirit des Meisters
Ich hätte heute beinahe Alex Kintner getroffen. 12 Jahre war der, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Schreckliches Schicksal war das damals. Ich habe mich immer gefragt, ob man da eigentlich Schmerzen spürt.
Auf der Fähre nach Martha’s Vinyard heute und auch, als ich durch das niedliche Fischerstädtchen Edgartown spazierte, hatte ich von dem Beinahe-Erlebnis am Abend noch keine Ahnung. Ich war damit beschäftigt, mir dabei zuzugucken, wie ich mit gezückter Kamera durch die Gassen spaziere, Gartenzäune und Bootsanleger inspiziere, und habe mich gefragt, was ich da eigentlich mache – und auch gestern und auch schon in den Tagen zuvor. Gestern saß ich in der Pizzeria, in der Julia Roberts ihre ersten Meter Kinofilm gedreht hat. Ich bin nicht deswegen nach Mystic gefahren, das war Zufall, der laufende Reiseteil gehört noch in den vom USA-Reisespezialisten gebauten Teil; die Stadt Mystic liegt halt als bequem zu erreichende Übernachtungsetappe auf dem Weg in den neuenglischen Indian Summer, den ich explizit als ein Ziel formuliert hatte. Ich kam erst später wieder drauf, woran mich dieser Name, Mystic, erinnert. Und dann habe ich den Julia-Roberts-Teil natürlich gerne mitgenommen. Heute also streifte ich aufmerksam durch eine Stadt, der mein 570 Seiten dicker Reiseführer drei Zeilen widmet, auf einer Insel, für die er drei Absätze erübrigt. Mir hat das Spaß gemacht.
Das Flehen einer Mutter
In Edgartown hat Steven Spielberg 1974 Der weiße Hai gedreht. Vor 50 Jahren. Der Film und ich haben eine Geschichte. Als er im Dezember 1975 ins Kino kam, hat mich meine Mutter angefleht, ihn mir nicht anzugucken. Ich war 14, der Film für mich gar nicht freigegeben, aber meine Mutter wusste, dass ich im Kino immer Mittel und Wege zum Einlass finde. Ihr beinahe ängstliches Flehen hat mich beeindruckt. Ich hatte alle damals erreichbaren Godzillafilme gesehen, im Fernsehen jede Menge Monster– und Gruselfilme, aber die Warnung vor diesem Hai-Film meinte sie ernst.
Ich war ein folgsamer Junge und habe den Film erst vier Jahre später gesehen, in einem dieser grässlichen UfA-Schuhschachteln in der Kölner Schildergasse – Leinwand klein und dreckig, Ton schlecht, Projektor zu dunkel, die Sitzreihen zu eng. Der Film hat mich trotzdem aus dem Sessel geblasen. Ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie mich eindringlich gewarnt hat; der 14-jährige Bub war wirklich noch nicht fertig gebaut gewesen für diesen Film.
Diese Insel musste Teil meiner Reise werden
Der Film ist ein Kunstwerk. Ein Meisterwerk in Effizienz, Witz, Bildsprache, Sound, Score und Richard Dreyfuss (der junge Experte) und Robert Shaw (der bissige Jäger) spielen sich gegenseitig in immer neue Höhen der Spielfreude. Roy Scheider als müder Polizist, der sich von New York hat hierher versetzen lassen, obliegt es, eines dieser ewigen Filmzitate zu sprechen: „We’ll need a bigger Boat!“, als er auf der kleinen Orca der tatsächlichen Größe des Tiers ansichtig wird. Auch dieses Zitat fand Einzug in die Liste der 100 Movie Quotes des American Filminstituts – in der auch der in New York erwähnte Satz aus Harry und Sally steht.
Als ich mich erinnerte, dass der mechanische Hai damals in den Gewässern vor Martha’s Vineyard geschwommen war, stand es außer Frage, dass ich die Insel in meine Route einbaue. Da konnten die US-Reisespezialisten mir nicht helfen („Unsere Partner haben da nur Zimmer jenseits der 500 Dollar im Angebot.“) Und so kam ich zu meiner ersten Buchung über AirBnB – das machte es signifikant günstiger als die genannten Zimmerkosten, in einem schicken Hotel bin ich dennoch gelandet.
„Jaws“ statt „Mann mit dem Goldhelm“
Als ich durch die Straßen von Edgartown spazierte und Häuserecken wieder erkannte, die im Film die zentrale Kreuzung der fiktiven Stadt Amityville doubelten, oder die kleine Fähre, auf der der um seine Tourismuseinnahmen besorgte Bürgermeister seinen den Strand schließen wollenden Sheriff ins Gebet nimmt, bin ich begeistert und baff, wie wenig sich in 50 Jahren an den Häusern, abgesehen von der Schminke, die die Setdesigner wahrscheinlich hier und da verteilt haben, verändert hat.
Und da wusste ich wieder, was ich hier tue. Andere fahren nach Paris und schauen sich die Mona Lisa an, nach Hamburg zum „König der Löwen“, nach New York, um am Broadway irgendein Stück zu sehen („Hauptsache, einmal am Broadway gewesen zu sein“) oder nach Bilbao, um Frank Gehrys Architektur des Guggenheim Museums im Original zu studieren. Ich bin überhaupt nicht alleine mit meiner Eigenheit, Reiseziele aus spleenigen Gründen anzusteuern. Ich besuche halt gerne Kulissen, Drehorte, quasi die Werkzeugkisten, die Making Ofs von Kunstwerken, die bei mir im Regal stehen oder im Bluray-Player liegen, nachdem ich sie im Kino gefeiert habe. In den Kulissen oder den realen Drehorten spüre ich dem Spirit nach, mit dem Spielberg sich zum Beispiel in die weißen Gartenzäune verguckt haben muss, die so wunderbar die Unschuld der Gemeinde spiegeln, über die das Grauen hereinbricht. Und im Medium Kinofilm ist „Jaws“ eines der größten Kunstwerke aller Zeiten; mindestens „Der Mann mit dem Goldhelm“ oder Michelangelos „David“. Oder die „Mona Lisa“.
Alex Kintner kommt ab und an noch vorbei
Abends ging ich in ein rustikales Restaurant, „The Wharf“, und gönnte mir einen ordentlich gegrillten Angus Burger mit Pommes (komischerweise hatten die außer Lobster kein ordentliches Seafood auf der Karte – und der Lobster krabbelte noch lebend in seinem Miniaquarium herum). Ich nuckelte an einem Budweiser, surfte im Netz durch Berichte zu den Stichpunkten Jaws und Edgartown und stolperte über den Namen Jeffrey Voorhees. Der arbeite, las ich, in eben diesem „The Wharf“ und der Besitzer mache sogar Werbung mit ihm. Voorhees spielte in „Jaws“ den 12-jährigen Alex Kintner, der vom Meerwasser nicht genug bekommt, und jetzt nochmal mit seiner gelben Luftmatratze ins Wasser will. Seine Mutter will das nicht, weil Alex‘ Finger vom Wasser schon ganz schrumpelig sind. Aber dann sagt sie doch Ja. Alex ist der einzige, der aus dem Wasser nicht mehr zurück kommt. Er ist „das zweite Opfer“.
Der 12-jährige Jeffrey Voorhees war vor Ort in Edgartown gecastet worden, wie viele andere Nebenfiguren auch, Alex Kintners verzweifelte Mutter zum Beispiel. Ja, sagt mir der Kellner, Jeffrey habe 25 Jahre im „The Wharf“ gearbeitet und käme auch heute ab und zu vorbei.
Morgen besuche ich den Strand, an dem Alex Kintner gestorben ist.
2 Kommentare
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Markus
Natürlich habe ich gleich die Titelmusik im Ohr, wird aber gleich relativiert, weil sich „Airplane!“ dazwischenmischt. So wird es nicht ganz so gruselig, aber es stimmt schon: Jaws, Der weiße Hai, ist einer der spannendsten Filme, die ich gesehen habe. Jetzt weiß ich wieder mehr darüber…