Halloween
Mittwoch, 10.23 Uhr: Halloween. Tag des Schreckens. Süßes oder Saures verlangen die Kinder im Geisterkostüm. Im Radio reden sie zwei Stunden lang über die jeweiligen Lieblingshorrorfilme und warum Horror im Kino wirtschaftlich eine sichere Bank ist. Liebevoll beschreiben sie ihre Lieblingsszenen, bei denen es einem schon beim Zuhören blümerant wird.
Mein Horror spielt sich draußen vor der Windschutzscheibe ab. Ich habe die Outskirts von Minneapolis gerade verlassen, da geht der Regen in Schnee über, der zum Gestöber wird. Die Welt um mich herum wird grauweiß, so schnell kann ich gar nicht gucken. Der Verkehr schleicht. Entweder hinter einem Räumfahrzeug, oder weil die Fahrbahn vereist ist. Meine Gedanken kreisen: Hätte ich doch den Interstate nehmen sollen? Aber wird da besser geräumt sein? Vielleicht nicht, aber im Ernstfall gibt es schnellere Anlaufstellen als hier draußen in der Pampa mit dem einen Lkw vor mir und keinem weiteren Auto hinter mir. Ich schleiche durch Ortschaften, deren Eingangsschild „POP. 356“ meldet, 356 Einwohner, eine Tankstelle, ein „Dollar General“ (eine Supermarktkette), hier und da ein Haus, verstreut ein paar Silos. Da möchte ich bei dem Wetter nicht im Straßengraben landen.
Ich habe lange in München gelebt, keine Angst vor verschneiten Straßen, aber einen sehr langen Weg vor mir; der bei dem Wetter nur länger wird. Mein Dodge nimmt die widrigen Witterungsverhältnisse ebenso besonnen zur Kenntnis wie ich, hält die Spur, bricht nicht aus. Aber bleibt das jetzt so? Ist das der von den Auskennern in Mainz versprochene dauerhafte Wintereinbruch? Dann sollte ich schon mal mit der Neuplanung meiner restlichen Reise beginnen. Ich will zwar noch was angucken hier oben, aber darauf ist meine Reise nicht fixiert, ich kann einfach nach Süden abdrehen.
Zuerst gehe ich mal tanken. Der Tank ist zwar noch halb voll, aber wer weiß, in welchem verschneiten, einsamen Straßenabschnitt zwischen Somewhere, Minnesota, und Anywhere, South Dakota, ich noch froh sein werde über ordentlich Restbenzin im Tank. Für mich tanke ich einen großen Becher heißen Kaffee, den der Becherhalter in der Mittelkonsole für mich warm hält. Wir machen uns in Deutschland gerne lustig über die Amis und ihre Spleens mit übertriebenen Warnungen für Dummies. Weil McDonald’s mal verklagt wurde, nachdem eine Frau sich am heißen Kaffee die Zunge verbrannt hatte. Ja, das wirkt albern. Aber: Ich habe in keinem Land bisher derart wirklich heißen Kaffee bekommen. Überall kaufe ich Kaffee und kann den gleich trinken. In den USA warte ich lieber mal fünf Minuten. So stelle ich mir heißen Kaffee vor.
Zehn Minuten, nachdem ich von der Tankstelle gerollt bin, hört es auf zu schneien, eine halbe Stunde später regnet es nicht mehr und werden die Flächen links und rechts der Straße wieder grün und braun. Eine Stunde später ist der weiße Spuk vorbei. Im Radio diskutieren sie mittlerweile mit ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses darüber, warum eigentlich all die Grußselstories, die ranghohe Mitarbeiter des orangehäutigen, ehemaligen Präsidenten – Stabschef, Generäle, Berater – über diesen erzählen, überhaupt keinen Effekt in den Wählerumfragen zur Folge haben und mit welchen Strategien, Trollarmeen und Bots Wladimir Putin und Xi Jinping den hiesigen Wahlkampf beeinflussen.
Halloween und das Trick or Treat der kostümierten Kinder spielt in den Medien nur noch in den Randzeiten eine Rolle. Seit ein paar Tagen dominiert die Wahl zum 47. US-Präsidenten. Während ich auf die Late Night Shows mit Jimmy Fallon, Jimmy Kimmel, Steven Colbert und Seth Meyers warte, kann ich stundenlang durch die Programme der Networks zappen, in denen ich von New York Times-Reportern, Politikberaterinnen, sendereigenen Analysten, Polit-Bloggerinnen, ehemaligen Kongressabgeordneten, Vanity-Fair-Redakteurinnen und Bob Woodward ins Bild gesetzt werde – „Thank’s for coming, it’s good to have You on the Show!“ „My Pleasure, thank’s for having me!“ „Absolutely!“ Die andauernden Höflichkeitsfloskeln nehmen gefühlt ein Viertel der Sendezeit ein.
Am Nachmittag rolle ich mit meinem Dodge unter der tief stehenden Sonne durch die Great Plains, den trockenen, einsamen Highway 212 entlang. Kein Hügel, keine Erhebung, nichts. Das einzige, was den Blick aufhält, sind Windräder, Strommasten und vereinzelte Bäume; die Great Plains sind Groß und Flach. Der Schnee vom Vormittag ist nur noch eine böse Erinnerung – und Mahnung. Vorgestern bin ich im Polohemd durch Minneapolis spaziert, gestern musste ich noch ein Fleece drüber ziehen, heute ist Winter. Geht schnell hier oben.
Um kurz nach 5 Uhr rolle ich durch Gettysburg. ”Where the Battle wasn’t!“, wie ein Schild gleich am Ortseingang verkündet. Es gibt noch ein Gettysburg, in Pennsylvania, in dem Anfang Juli 1863 eine entscheidende Schlacht des amerikanischen Bürgerkriegs stattfand und Abraham Lincoln später eine seiner berühmten Reden, die Gettysburg Address, gehalten hat.
Das Gettysburg, in dem ich jetzt bin, meldet – auch am Ortseingang – „POP. 1.162“ und auf der Main Street fährt die Feuerwehr heute Abend Sonderschichten. Sie regelt den Verkehr, damit die kleinen kostümierten Trick-or-Treater jederzeit sicheren Fußes über die Fahrbahn rennen können. Das ist ein rührendes Bild, wenn die wuchtigen Kerle in Uniform unvermittelt auf die Durchgangsstraße treten, breitbeinig und mit ihrer ganzen, keinen Widerspruch duldenden Autorität den SUVs und Trucks große STOP-Schilder entgegenhalten und dann wuselige kleine Feen, Vogelscheuchen, Kürbisköpfe und Hexen mit wehenden Sammelbehältern die Seite wechseln. Als ich etwas gedankenverloren ein Café betrete, in dem ich mich nach Motels erkundigen möchte, werde ich gleich angesprochen: „Du bist wohl nicht für Trick or Treat hier?“ „Oh, nein, bin ich nicht. Ich suche …“ „Nimm trotzdem was Süßes. Happy Halloween!“
So erlebe ich mein erstes Halloween.
5 Kommentare
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Markus
Oh super! Sag mal, gabs schon immer diese Drohnenaufnahmen? Wirkt total professionell!
Christoph Hartung
Vorher nur in Traverse City, Michigan. Ist nicht ganz einfach, sie hier einzusetzen. =;o)
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