Election Day
Um Mitternacht begrüßte mich eine strahlende Stephanie Ruhle, die mit Begeisterung – „Election Day is finally here!“ – den Start in den Wahltag verkündet. 24 Stunden später ruft sich der republikanische Kandidat zum Sieger dieser Wahl aus.
Bei den Networks CNN, FOX und MSNBC (ABC und CBS finde ich auf meinem Motel-Fernseher leider nicht) laufen in dieser Nacht, die den großen Wahltag einläutet, keine alten Krimiserien, da wird nicht die Show mit Gästen vom Vormittag wiederholt. Am Election Day legen die genannten Sender das ganz große Besteck auf, 24 Stunden Talkgäste, Einschätzungen, Prognosen, Was-wäre-wenn, Sicherheitsstandards und was einem sonst noch so einfällt. Überall sitzen Talkgäste – der ein oder andere Politikberater, Podcaster, meistens aber die altgedienten Politanalysten aus dem eigenen Haus –, denen nie der Stoff ausgeht. Bei Stephanie Ruhle (MSNBC) neben anderen auch eine hip gestylte Redakteurin der Vanity Fair, die sich zu den Aufritten der Kandidaten äußert, weniger zu deren politischen Inhalten.
Ein Sieg ohne Auswirkungen
Am Tag der Präsidentschaftswahl ist es im südöstlichen Montana nasskalt mit Betonung auf kalt. Schneidend fällt einem als Adjektiv ein. Ich stehe am Little Bighorn, einer hügeligen Landschaft am Little Bighorn River, der ihr den Namen gegeben hat, und schaue auf weiße Grabsteine.
Ich bin am National Monument der Schlacht vom Juni 1876, in der Oberstleutnant George Armstrong Custer eigentlich den vernichtenden Schlag gegen die Stammeskrieger der Lakota- und Dakota-Sioux, Arapaho und Cheyenne führen wollte, die sich einfach nicht in die ihnen von den weißen Siedlern zugewiesenen Reservate zurückziehen wollten, sondern darauf beharrten, dass das ihr Land sei, ihre Jagdgründe. Custer war sich seiner Sache sicher, kannte die Lebensweise der Indianer gut, bewunderte sie als gute Reiter und Jäger. Vielleicht schlampte er deshalb bei der Aufklärung im Vorfeld der Schlacht und schätzte deshalb die Lage falsch ein. Die Folge: Seine fünf Kompanien wurden eingekesselt und vernichtet. Es war einer der wenigen Erfolge der Prärieindianer in ihrem Überlebenskampf. Die gewonnene Schlacht änderte nichts an dem ihnen zugewiesenen Schicksal, tatsächlich ist diese Schlacht am Little Bighorn militärhistorisch eher zweitrangig.
Eine gruslige Szenerie
Aber so eine Einschätzung verbietet sich, wenn man dann da steht auf diesem ehemaligen Battleground – ein Begriff, den die TV-Sender heute auch für die umkämpften Swing-States benutzen, Schlachtfeld – und überall diese weißen Grabsteine sieht. Es gibt ein kleines Feld vorne am Visitor Center, wo sie, wie am großen Soldatenfriedhof Arlington bei Washington D.C., ordentlich aufgereiht stehen. Unterschied zu Arlington: Hier picken Truthähne zwischen den weißen Steinen herum. Und dann gibt es über das gewaltige Gelände verteilt weitere viereinzelte Steine. Das sind jene, die den Tod einzelner Soldaten an exakt dieser Stelle markieren. Am Hügel des Letzten Gefechts, des Last Stand, stehen etwa 30 Steine. Bei einem ist der Name schwarz hervorgehoben, das ist der Custers. In Ehren beigesetzt wurde Custer später in West Point, der großen Militärakademie. Gestorben ist er hier auf diesem Hügel an dieser Stelle. Und mit ihm alle anderen. Es ist gruselig: Ich schaue über die weite Landschaft, da blitzt hier ein weißer Stein durch das ockergelb-graue Gras, da hinten ein weiterer und dort nochmal einer. Das bringt einem den Tod dieser Männer näher – unangenehm näher – als jede Erklärtafel, die am Wegesrand steht. Auch den Tod der Indianer übrigens, derer hier mittlerweile ebenso gedacht wird, wie den weißen Soldaten.
Für den historisch nicht so beschlagenen Besucher ist das gigantisch weite Feld irritierend, weil es am Ort der Niederlange, am Last Stand, beginnt; ich hatte mich vor dem Besuch mit der Vorgeschichte vertraut gemacht, in der Laramie, die Black Hills, die Plains und weitere Stationen meiner jüngeren Reise eine Rolle spielen, aber nicht mit den strategischen Feinheiten der eigentlichen Schlacht, deshalb muss ich mich erst orientieren. Am Ende der langen Fahrt durch den Park stehe ich dann an der Ausgangssituation der zweitägigen Schlacht. Tafeln überall am Wegesrand erläutern, was damals hier jeweils geschah. Das bietet für Militärhistoriker und -strategen eine Lehrstunde am Originalschauplatz mit Hügeln, Senken, Schluchten und Büschen für Hinterhalte. Ich lasse meine Fantasie laufen und übersetze das Gelesene in Bilder. Viele davon dringen aus Kinobesuchen nach vorne. Hollywood hat den Stoff zig mal verfilmt, meistens als die Märtyrersaga weißer Soldaten, die von Wilden abgeschlachtet werden; eine schöne Ausnahme ist Arthur Penns Little Big Man von 1970 mit Dustin Hoffman in der Titelrolle.
Riesiges Privatland
Auf der langen Fahrt durch die Anlage fahre ich auch vier Meilen über privates Gebiet, Schilder machen darauf aufmerksam, dass man bestimmte Wege nicht befahren sollte; mitten im vermeintlichen National Monument grasen Rinder. Das macht mir bewusst, dass hier oben gewaltige Flächen als Farmland in privaten Händen ist; die Neo-Westernserie „Yellowstone“, die dieser Tage ihre letzten Folgen ausstrahlen wird (in Deutschland u.a. bei Netflix), erzählt von so einem Landbesitz und was für Gelüste und Mordpläne der bei Leuten auslöst. In der ersten Staffel sagt Kevin Costner, der den Landbesitzer spielt, mal zu einem chinesischen Touristen, der so viel Land in einer Hand gar nicht begreifen kann: „Das ist Amerika. Hier teilen wir unser Land nicht!“
In den über mehrere Zeitzonen verteilten USA haben die Wahllokale geschlossen. Der Republikaner führt in den Hochrechnungen, hat um Mitternacht offenbar drei der sieben Swing-States für sich gesichert. Aber was heißt das? Die großen Sender werfen Zahlen, Vorsprünge und Prozente in die Runde und betonen dann, es sei ”Too early to call“. Und bei CNN führt John King seinen wunderbaren Pas de Deux mit einer Computerwand auf, auf der die US-Karte mit den 50 Bundesstaaten zu sehen ist, die in blauen (Demokraten) und roten (Republikaner) Farben leuchten.
Da sieht man mehr rote Staaten als blaue, aber das sind eben nur Hochrechnungen. King kann in diese Karte bis in die einzelnen Counties einzoomen, kann dort vier, acht, zwölf Jahre zurück blättern, damalige Ergebnisse mit heutigen Prognosen vergleichen, und liefert auf diese Weise großartige Analysen – ohne Meinung, ohne parteipolitisch gefärbte Brille, „just simple math“ – zu Zwischenständen, die nicht immer so blau oder rot sind, wie sie auf der großen Übersichtskarte scheinen.
Wahl unter Bewachung der Nationalgarde
Von Anschlägen auf Wahlkabinen oder Randale gibt es noch keine Meldungen, in den Tagen vor der Wahl waren Briefwahlkästen abgefackelt worden, die Nationalgarde ist an verschiedenen Orten aufmarschiert, Scharfschützen haben einzelne Wahllokale im Visier. Die US-Wahl 2024 erscheint bisweilen, als werde sie in einem Drittwelt-Land abgehalten.
Ich halte mich in einem sehr roten Bundesstaat auf, Montana ist Repulikaner-Land. Morgen besuche ich Billings – die größte Stadt des Staates, geprägt durch drei Erdölraffinerien. Darüberhinaus werden Vieh, Weizen und Zuckerrüben gehandelt und verarbeitet.
Als ich an diesem Tag schlafen gehe, hat sich der Republikaner in West Palm Beach zum Sieger der Wahl erklärt. In Billings gibt’s dann wahrscheinlich an jeder Ecke Freibier? Das ist wohl too early to call.
Ein Kommentar
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