Vom Werden und Vergehen
Der Verkehr fließt schon wieder auf dem Strip. Die störendsten Zäune sind noch in der Nacht, während Max Verstappen im Bellagio seinen vierten Weltmeistertitel in der Formel 1 gefeiert hat, abgebaut worden. Im Werden und Vergehen und wieder Werden hat es Las Vegas zu einer gewissen Fingerfertigkeit gebracht. Diese Stadt erfindet sich alle paar Jahre neu, zermahlt die Geschichte zu neuem Beton für neue Fantasiepaläste, oder schmeißt sie auf den Schrott.
Zeugen der Vergangenheit ohne Verwendung
Da landen zum Beispiel die ganzen Neons, die die Stadt in ihrer ersten Blütezeit geprägt haben, als hier noch Frank Sinatra die große Nummer war. Einige haben sie gerettet vor dem endgültigen Zerfall. Die liegen jetzt auf dem Neon Boneyard im Norden der Stadt; das ist ein Museum, um das sich einige Liebhaber bemühen, die das mit Fleiß und professionellen Strukturen am Laufen halten – natürlich gibt es einen gut sortierten Gift Shop.
In diesem Museum unter freiem Himmel leuchtet die ausgemusterte, mehrere Stockwerke hohe Gitarre des Hard Rock Café weiter, ebenso der alte Schriftzug des Stardust, auch das Moulin Rouge leuchtet hier noch in strahlendem Pink. Andere haben es nicht mehr geschafft. Der Schriftzug des Golden Nugget, das an der Fremont Street ganz in der Nähe steht, steht in rot-gelbem Blech stumpf an der Seitenlinie, erinnert aber auch ohne sein Neon an andere Zeiten. Es war 1946 das erste Hotel, das in Las Vegas gleichzeitig auch als Casino konzipiert worden ist, ist also sowas wie die Mutter aller heutigen Las Vegas-Accomodations. Das Nugget, dies nebenbei, ist in Las Vegas eine beliebte Kulisse für Filmregisseure: James Bond war mit Diamantenfieber (1971) hier, Nicolas Cage marschiert in „Next“ durch das Casino und auch Jason Statham war schon da für den Film Wild Card (2015). Aber ich schweife ab.
In einer zwielichtigen Gegend
Ich habe mich für das Museum am späten Nachmittag angemeldet, schließlich sollte man sich alte Neons bei Dunkelheit angucken. Es gehört zu meinen Gewohnheiten, solche Besuche zu Fuß zu erledigen, was im Prinzip eine schöne Idee ist, so sehe ich mehr von der Stadt, in diesem Fall vom Las Vegas Boulevard, von dem der Strip nur ein kleiner Teil ist. Ich hatte also den ganzen Tag Zeit, die zehn Kilometer bis dorthin zu kommen, bummelte durch die bei Tag sonderbar nach Lego aussehende Stadt und ihre Casinos und war, als die Sonne unterging, gut in der Zeit, immer noch auf dem Las Vegas Boulevard, aber plötzlich in einem Teil der Stadt, in dem ich mich bei Dunkelheit, noch dazu mit meiner Kamera, eher nicht herumzudrücken pflege. Blinde Fensterfronten, aufgegebene Motels, unerfreulich wirkende Bars, eine Hochzeitskapelle neben der anderen, eine heruntergekommener als die andere. Mehrfach riefen mir am Straßenrand stehende Gestalten hinterher – „Hey! Photographer!“ oder sowas – worauf ich nicht reagierte und die Gestalten dann erfreulicherweise auch nicht mehr nachsetzten. Wenn ich so eine Szene im Kino sehe, dachte ich, halte ich den Protagonisten für blöde und weiß, das geht nicht gut.
Es ging gut. Aber auf dem Rückweg nahm ich den Bus. Anfang der 1990er hat Las Vegas versucht, dieses Viertel im nördlichen Teil des LV Boulevards durch das Fremont Street Experiment wieder aufzuwerten, nachdem, bevor der Strip mit seinen spektakulären Bauten – streng genommen außerhalb der Stadtgrenzen – die Massen an sich riss, hier jenes Leben tobte, das sich in dem Satz bündelt What happens in Vegas, stays in Vegas. 1994 wurden die fünf westlichen Blöcke der Straße mit Unterstützung der anliegenden Casinos mit einem LED-Schirm überdacht, auf dem fortan Shows aufgeführt wurden – die Casinos löschten während dieser Stunden sogar ihre Lichter. Mittlerweile wurde die Decke zweimal renoviert, in der Straße ist ordentlich Leben, aber drumrum ist alles dunkel geblieben – nichts für Touristen mit Fotoapparaten.
Regelkunde fürs Casino via YouTube
Ich suchte das Caesars Palace auf. Es war Zeit, mich an einen Roulette-Tisch zu setzen. Gab es da nicht. Über Säle und Kilometer gibt es einen Edelshop neben dem anderen und wenn man endlich im Casino steht, gibt es die üblichen Daddelautomaten, dazu die digitalen Roulette- und Black Jack-Avatare sowie digitales Crap. Auch das habe ich mir gegönnt: Nachdem ich gestern hilflos den Regeln gegenüber an den Würfeltischen stand, habe ich mich heute, weil ich ja Zeit hatte, in die Sonne gesetzt und recherchiert. Bei YouTube erfuhr ich, dass das Spiel Crap heißt und dass Anfänger ihre Chips der Einfachheit halber auf die Pass Line setzen sollten – wo sie allerdings nur gewinnen, wenn der Mann mit den Würfeln eine 7 oder eine 11 wirft. Das erscheint mir eine zu gewagte Wette, davon ließ ich lieber die Finger. Natürlich gibt es da noch zig andere Wettoptionen, aber: Ich Anfänger, lieber Finger weg lassen.
Analoge Tische fand ich im Caesars Palace nicht, nur einen Poker Room, bei dem alle Vorhänge zugezogen waren. Ich will nicht ausschließen, dass ich im blendenden Licht der Daddelautomaten einen Seitenarm des Casinos übersehen habe. Weil ich in den anderen Casinos aber leicht fündig wurde, bleibt ein Fragezeichen.
Mindesteinsatz ist gefordert
Es war Sonntagabend und die Tische gut besucht. Außerdem gibt es ein Limit. Man muss mindestens 15 Dollar, meistens sogar 25 Dollar setzen. Das brachte meinen Plan, mich mit 30 Dollar dazu zu gesellen, einigermaßen durcheinander; da habe ich gerade mal zwei Chancen. Wenn die im ersten Wurf daneben gehen, kann ich gleich wieder aufstehen und gehen. Die anderen Spieler am Tisch schoben immer wieder mal zwei oder drei 100-Dollar-Noten zum Croupier, um diese in Chips zu tauschen. Im New York-New York fand ich schließlich einen Tisch, der a.) nicht so voll und b.) nicht von lauter grölenden, sich breit machenden Kumpels besetzt war.
Im Kino läuft die Geschichte jetzt so ab. Der etwas tapsige Held, ein Steve Martin-Typ vielleicht, der das gepfändete Haus seiner geliebten Oma retten muss, setzt sich dazu, grüßt freundlich und kauft für 30 Dollar sechs 5-Dollar-Chips. Die anderen Männer am Tisch feixen: Der Typ ist gleich wieder weg. Der erste Einsatz geht schief, der Steve Martin-Typ hat noch eine kleine Chance. Die gewinnt er. Er freut sich, spielt nochmal, gewinnt wieder, freut sich noch mehr, Bildschnitt, vor dem Mann stehen Türme von Chips, das halbe Casino steht um den Tisch herum und applaudiert dem freundlich lächelnden Mann, der gerade die Bank zu sprengen droht.
Mit 30 Dollar am Roulette-Tisch
Ich setzte drei 5-Dollar-Chips auf Rot und und drei 5-Dollar-Chips auf Gerade. Die Kugel fiel auf die 8 – schwarz, gerade. Einmal verloren, einmal gewonnen, an meinem Chip-Bestand hatte sich nichts verändert. Wieder setzte ich auf Rot und diesmal auf den Bereich Mittleres Drittel, also darauf, dass eine Zahl zwischen 13 und 24 fällt (im Falle, dass die Kugel eine dieser Zahlen trifft, würden sich meine drei Chips dort auf neun Chips erhöhen). Die Kugel fiel auf die 30 – Rot, aber unteres Drittel. Wieder blieb mein Chip-Bestand derselbe. Das brachte mich zwar nicht voran, aber es lief nun schon länger, als ich gedacht hatte. Zweimal war eine gerade Zahl gefallen, einmal Rot, einmal Schwarz. Ich setzte auf Rot und auf Ungerade. Die Kugel fiel auf die 26 – Schwarz und Gerade. Ich war raus.
In einem Spielerfilm würde der dramatische, wahrscheinlich spiel-, mindestens aber alkoholsüchtige Held jetzt weitere 30 Dollar einsetzen, um sich die ersten 30 zurückzuholen – „das wäre ja gelacht“, „das muss ja schließlich klappen“, „meine Pechsträhne muss ja mal ein Ende haben“ und so weiter, bis er am Boden liegt. Wegen solcher Figuren, die es auch in der Realität gibt, lassen sich im Hotelzimmer die Fenster nicht öffnen und sind die zahlreichen Übergänge von Hotel zu Hotel über den viel befahrenen Strip mit hoch ausragendem Panzerglas abgesichert, damit niemand verzweifelt in den fließenden Verkehr springt.
Von drei Casinobesuchen hier nur der zweitschlechteste
Ich hatte gerade 30 Dollar dafür ausgegeben, an einem mit Filz bespannten Tisch sechs Minuten lang mit vier fremden Männern, die jeweils die Hand ihrer Freundin/Frau/Casinobekanntschaft auf der Schulter liegen hatten und eine Zigarette zwischen den Fingern hielten (ja, in den Casinos darf man rauchen), einer weißen Kugel beim ins hoffentlich richtige Fach fallen zuzusehen. Ich war nicht überzeugt, dass ich mir meine 30 Dollar würde zurückholen können und verließ mit einem freundlichen Have a nice evening den Tisch.
Ich war ein bisschen angefressen. Immerhin aber war die Partie aufregender gewesen, als 1997, als ich zum Kinokongress ShoWest in der Stadt war und einer gelangweilten Nachmittags-Croupiere dabei zusah, wie sie die Kugel zweimal in die komplett falschen Kombinationen und damit mich wieder vom Tisch bugsierte. 1989 hatten wir unseren Chip-Bestand überraschend verdoppelt und in einen zusätzlichen Tag im örtlichen Spaßbad investiert.
Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles
Ich finde das Zocken in Vegas weit weniger interessant als die Idee Las Vegas: Eine Stadt, in der alles darauf ausgerichtet ist, Geld zu machen. Halbnackte Frauen mit Polizeimütze, Negligé und Netzstrümpfen, Federboa schwingende Ballerinas, Darth Vader, Spider-Man und Captain America, die sich mit dir fotografieren lassen und sich über zehn Dollar dafür freuen; Akrobaten, die ihre Kinder Breakdancen lassen, bevor sie selbst unmögliche Sprünge absolvieren und dafür gerne 20 Dollar von jedem Zuschauer hätten, bis zu den professionell durchstrukturierten Hotel-und-Casino-Konzernen, die gerne ein paar hundert Dollar nehmen. Die Federal Highway Administration hat den Strip als All-American Road ausgewiesen, und die Routen des North und South Las Vegas Strip als Nevada Scenic Byways und National Scenic Byways klassifiziert. Die Kunst, Geld zu machen wird hier zur All American Naturschönheit.
Morgen fahre ich nach Hollywood. Ans Ziel meiner Reise.
3 Kommentare
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Jutta Ullmann
Schade! Dann habe ich ja bald nichts mehr zu lesen. Finde Deinen Blog sehr lesenswert. Den Anfang habe ich zwar verpasst, dafür die letzten 3 Wochen intensiv verfolgt und mich täglich gefreut. Die Megastädte kenne ich alle mehr oder weniger auch. Außer Las Vegas. Die National-Parks des Wilden Westens fehlen mir noch. Da hatte ich einen schönen Vorgeschmack. Die sind auf meiner bucket list. Aber da stehen ja noch so viele weitere unerfüllte Reiseziele. Also Eins nach dem Anderen. In einem Jahr, inch’Allah, steht eine große Brasilien Reise auf dem Plan.
Wünsche Dir eine guten und sicheren Rückflug. Bis demnächst beim MRG Training. Bislang habe ich geschwänzt…
Gruß Jutta