An den Niagarafällen, Ontario, 14. Oktober 2024
Reisen,  Tourismus

Ein ewiger, donnernder Sturz

Was finden Menschen eigentlich an Wasserfällen so toll? Wasser fällt einen Felsen herunter. Dauernd. Die verkaufen hier T-shirts, da steht drauf „Niagara never ends!“ Gefällt mir. Vielleicht ist es das. Dieses Beständige, Verlässliche.

Ernsthaft stellt sich diese typisch akademische Frage natürlich nicht. Steht man nämlich vor den Niagarafällen, ist das einfach nur Boah!

Ich bin in Niagara Falls, Ontario, in der kanadischen Hälfte des Ortes also. Die andere Hälfte liegt auf US-Territorium, soll das unterhaltsamer aufbereitete Visitor Center haben, hat dafür aber nur den zweitschönsten Blick auf die beiden großen Wasserfälle, eher so von der Seite und von oben. Die Kanadier haben den Cinemascopeblick auf die beiden Fälle. 20 Millionen Touristen kommen deshalb im Jahr hierher. Wenn die Natur vorbei käme und sehen würde, was der Mensch dafür mit ihrer spektakulären Schöpfung angerichtet hat, sie würde bitterlich weinen.

Von der Gegend, die der Franziskanermönch Louis Hennepin im Jahr 1678 entdeckt hat, sind nur noch die Wasserfälle selbst und deren Ablauf über den Niagara River in den Ontariosee übrig; dass die Wasserfälle selbst nicht mehr so aussehen wie 1678, hat geologische Gründe. Die Wasserfälle sind Überreste der Eiszeit. Als der Gletscher, der den amerikanischen Kontinent bedeckte, vor 12.000 Jahren schmolz, blieben Binnengewässer zurück – uns heute als die fünf großen Seen bekannt. Einer von diesen, der Lake Erie, fließt in einen zweiten von diesen, den Lake Ontario; sehr verkürzt gesagt sind die Niagarafälle jener 109 Meter hohe Überlauf. Eine wichtige Rolle spielen auch unterschiedliche Gesteinsschichten, hier hartes Sedimentgestein, später Schiefer, weicher Sandstein und Mergel. Der weiche Stein wird ausgewaschen. Das verändert die Wasserfälle. Deshalb gehen Geologen davon aus, dass die Wasserfälle in 25.000 Jahren in Buffalo sein werden, also rund 40 Kilometer weiter südlich. Wenn das passiert, werden die Hoteliers und Casinobetreiber in Niagara Falls bitterlich weinen.

Sie haben das Gewässer ordentlich eingeriegelt. Keine Chance, irgendwo einfach so ans Wasser zu kommen. Entweder hast Du ein Ticket, einen Adventure Pass oder einen Niagara Tours XXL-Voucher für eine der vielen Attractions, oder Du bleibst dem Wasser fern. Nun ist es auch nicht gesund, sich unkontrolliert diesem reißenden Gewässer zu nähern, oder gar darin baden gehen zu wollen – als Anwohner des Rheins weiß ich, dass es immer wieder Menschen gibt, die sich für stärker halten als den Fluss. Sie verlieren immer. Was ich sagen will ist: Das Naturschauspiel ist rundherum komplett vermarktet, inklusive Hard Rock Café und Riesenrad. Die großen Hotelketten haben vor allem auf kanadischer Seite, die mit dem Cinemascopeblick, hohe Türme hingestellt, um möglichst unverbauten Blick anbieten zu können und die Gäste anschließend ins Casino nebenan locken zu können. Der durchschnittliche Cheeseburger kostet 16 Dollar.

Die Wasserfälle sind ein erstklassiger Energielieferant. 2,6 Millionen Kilowatt Leistung werden produziert, damit gehört das Wasserkraftwerk zu den größten der Welt – gegen den chinesischen 3-Schluchten-Damm (22,5 Millionen KW) ist es allerdings ein Winzling. Dabei könnte das Wasserkraftwerk an der US-kanadischen Grenze viel mehr produzieren, 4,5 Millionen KW.

Aber der Durchlauf durch die Wasserkraftwerke wird reglementiert, damit an den eigentlichen Fällen genügend Wasser für die Touristen sichtbar bleibt.

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Das alles ging mir durch den Kopf, während ich die 20 Millionen anderen Touristen ausblendete, alle Könnten-Sie-bitte-ein-Foto-von-uns-machen-Wünsche erfüllt hatte und allen Würden-Sie-bitte-mal-für-unser-Foto-zur-Seite-treten-Rufen nachgekommen war. Was übrig blieb, war dieser gewaltige Anblick. Und das gleichförmige Tosen. Seit 12.000 Jahren. Niagara never ends.

Ich war mittags aus Syracuse gekommen. Natürlich hat es die ganze Fahrt über geregnet. Kaum näherte ich mich der kanadischen Grenze, ließ der Regen nach, klarte der Himmel auf und als ich nach der Passkontrolle den Bundesstaat New York verließ, schien die Sonne. Die Fahrt selbst war ereignislos. Ich hatte wegen der Zeitersparnis die Mautstrecke genommen. Die war so langweilig, dass ich Mühe hatte, klar zu bleiben. Ab jetzt wieder die kleinen Highways – wobei: Ich fahre morgen noch ein paar Stunden durch Kanada, Lake Erie im Süden, Lake Ontario im Norden, ich nach Westen Richtung Detroit; mal sehen, was die Kanadier mir als Strecke anbieten.

Dann gab ich mir das ganze Paket. Ich spazierte über den White Water Walk am Niagara River entlang und bestaunte die Stromschnellen, die mit bunten Infotafeln unterfüttert wurden. Ich fuhr mit einer historischen Seilbahn über den „Whirlpool“ – da macht der Fluss vier Kilometer nach den Wasserfällen eine 90-Grad-Kurve und hat diese im Laufe der Jahrtausende so gründlich ausgewaschen, dass da ein gewaltiger Strudel entstanden ist. Und wenn ich noch ein Ticket bekommen hätte, wäre ich auch noch mit einem der Ausflugsboote bis ganz ran an die Wasserfälle gefahren. Dafür war ich dann zu Fuß hinter den Wasserfällen und das war der Hammer. Da stehst Du rund 100 Meter unter der Kante direkt neben dem herabstürzenden Wasser – oder in abgesicherten Tunneln eben auch hinter der stürzenden Wasserfront, auf der im diffusen Licht die Geister tanzen – und kriegst dich vor der ganzen Großartigkeit dieses Spektakels gar nicht mehr ein.

Mittlerweile ist es dunkel und die Wasserfälle bunt. In den Abendstunden werden sie in wechselnde Farben getaucht. Das sieht schon prachtvoll aus und ist für die Selfie-Jäger günstig. Wichtig aber ist das vor allem für die Hoteliers. Würde man auf die strömende Lichtorgel verzichten, würde man die Wasserfälle von den teuren Hotelzimmern aus abends ja gar nicht sehen – und die Wasserfälle sind wirklich der einzige Grund, warum die Menschen hierher kommen. Um 22 Uhr beginnt das Feuerwerk. Fünf Minuten dauert es.

Den Wasserfällen ist das alles einerlei. Sie fließen und stürzen und donnern, wie sie das seit tausenden von Jahren machen.

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