Downtown Ann Harbor, 15. Oktober 2024
Kino,  Reisen

The All American City

Ich bin wieder in den USA. Mein kanadisches Intermezzo hat nur rund 27 Stunden gedauert, aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen; als ich heute morgen aufwachte, donnerten die Wasserfälle vor meinem Fenster so, als hätte es das Gestern nicht gegeben.

Ich wollte nach Westen, grob Richtung Detroit. Da gab es zwei Möglichkeiten: an Ort und Stelle gleich wieder raus aus Kanada und südlich um den Lake Erie rum durch Cleveland, Ohio. Aber so unhöflich wollte ich Kanada gegenüber nicht sein, dass ich das Land nur auf seine Wasserfälle reduziere. Also fuhr ich durch Kanada Richtung US-Grenze, zwischen Lake Erie, südlich, und Lake Ontario, nördlich. Die Strecke hat außerdem den charmanten Vorteil, knapp eineinhalb Stunden kürzer zu sein, als die Cleveland-Variante.

Ein Klischee über die Kanadier lautet, ein sehr freundliches Volk zu sein. Ich kann das nach der kurzen Zeit nicht seriös beurteilen, aber das freundliche und kräftige „Howdie“, mit dem ich bei der Einreise begrüßt worden war, klang schon in diese Richtung. Im Straßenverkehr bin ich versucht, das Klischee zu unterstreichen. Wirklich niemand hält sich hier an die Geschwindigkeitsbegrenzung. In Kanada gilt das metrische System, das heißt, wenn als Maximum Speed 80 vorgegeben wird, sind das 80 Km/h, auf meinem Tacho also 50 mph. Während ich nun dauernd mit Umrechnen beschäftigt war – 80=50, 100=63, 110=70 – donnerten ungerührt Lkw und alle anderen mit sehr überhöhter Geschwindigkeit an mir vorbei. Mehrfach stand ein Schild an der Seite, das auf die horrenden Strafzahlungen für zu schnelles Fahren hinwies; bei 10 Km/h zu schnell sind es schon knapp 100 K-Dollar. Offenbar sind die kanadischen Behörden aber so freundlich, dass sie stets ein Auge zudrücken – die Lkw-Fahrer haben ja auch Lieferfristen und die Autofahrer sollen sich ja auf unseren Straßen nicht langweilen.

Das Klischee mit dem entspannenden Tempolimit

Weil die Kanadier auch leidenschaftliche Straßenausbesserer sind, war die Strecke oft einspurig und Tourist, der ich bin, fahre ich ungefähr die erlaubte Geschwindigkeit. Ich meine, in den riesigen Pick-Ups, die hinter mir nicht vorbei kamen, den ein oder anderen unfreundlichen Kanadier wahr genommen zu haben.

Auch so ein Klischee, gerne vorgebracht in der deutschen Debatte übers Tempolimit: Angeblich fährt es sich in den USA und Kanada viel entspannter, weil sich alle ans Tempolimit halten. Olle Kamellen. Auf amerikanischen Straßen gibt es auch Raser, Drängler und ungeduldiges Gehupe; nicht so viel, wie in Deutschland, aber die seligen Zeiten breiter Haifischflossen-Pontiacs, die mit offenem Dach die Straße entlang cruisen, während coole Musik aus dem Radio schallt, sind lange vorbei.

Sympathisches Kanada-Detail: Die Schilder für die Fernstraßen erinnern mich daran, dass ich mich im britischen Commonwealth befinde. Die Fernstraßen-Nummer wird in einer stilisierten Krone dargestellt.

Hinweisschild an einem kanadischen Interstate

Während ich also gemächlich der US-Grenze entgegen rollte, entschied ich mich aus meiner Musikbibliothek für Udo Lindenberg. Auch der hing einst seinen Träumen über Amerika nach, die er von Klischees nicht trennen konnte, und verarbeitete seine Sehnsucht 1978 und 79 in zwei Alben: „Rock Revue“ und „Der Detektiv – Rock Revue 2“. Er nahm sich die großen Rock- und Blues-Klassiker vor, versetzte sie mit einem neuen – deutschen – Text und tauchte tief in seine Sehnsüchte und Enttäuschungen über das Land ein. Als die Platten damals raus kamen, hatte ich meine ersten beiden USA-Aufenthalte gerade hinter mir und auch Träume dazu.

Deswegen wunderte mich die Gänsehaut, die mich heute mehrfach am Steuer meines Dodge überfiel, nicht, wenn aus der Soundanlage etwa dröhnte

Wir fahren durch die leeren Straßen
Weit raus auf die Autobahn
Und wo die zu Ende ist, fängt unser Horizont an!

Das klang heute im Auto auch für mich nach 70er-Jahre-Kitsch. Aber damals war ich 17 und habe das verdammt ernst genommen. Und: Was genau mache ich eigentlich gerade? Ich fahre durch – nicht mehr ganz – leere Straßen, raus auf die Autobahn und schaue, wo mein Horizont ist. Auch ich verarbeite auf dieser Reise Träume und Klischees.

Deshalb hieß mein Tagesziel: Ann Arbor, Michigan. Ann Arbor liegt, von meiner kanadischen Strecke aus gesehen, 40 Meilen hinter Detroit. Die ehemalige Autostadt, die direkt an der Grenze liegt, ließ ich aus. Sie ist zurzeit eine Schlagzeile, weil der republikanische Präsidentschaftskandidat erklärt hat, unter Kamala Harris und Tim Walz würde bald das ganze Land sein wie Detroit. Seitdem ist das hier Thema in allen TV-Gesprächsrunden. Detroit ist natürlich auch Schauplatz einiger Filme, einer heißt sogar wie die Stadt. Aber Großstadt habe ich demnächst noch genug. Außerdem finde ich Ann Arbor viel interessanter. 124.000 Einwohner, 45.000 Studenten an der dortigen University of Michigan. Der Leichtathlet Jesse Owens hat hier einst in 45 Minuten sechs Weltrekorde aufgestellt und düpierte ein Jahr später, 1936, bei den Olympischen Spielen in Berlin mit vier Goldmedaillen die Nazis und ihre Ideologie.

Hollywood liebt Ann Arbor

Außerdem ist Ann Arbor sowas wie die All American Town. Anfang der Zehner Jahre gaben sich die Regisseure hier die Klinke in die Hand, amerikanische Filmerzähler lieben die Stadt. In zahlreichen Filmen bietet sie Kulisse, ohne selbst als Ann Arbor kenntlich gemacht zu werden. In Scream IV doubelt die Stadt Teile des fiktiven Woodsboro, in der der Killer mit der Edward Munch-Maske umgeht. Harry und Sally-Regisseur Rob Reiner drehte hier 2011 Flipped, eine wehmütige Erinnerung an Erste Lieben. George Clooney kam zum ersten Mal in diese Stadt an einem St. Patrick’s Day. Im Internet findet sich ein Satz, den er auf dem 36. Toronto Film-Festival gesagt haben soll: „First of all, Ann Arbor is an amazing city. We got there on St. Patrick’s Day and everyone was drinking beer and everyone was screwed up, and I was like, ‘This town was made for me.’“ Danach kam er zurück und drehte hier seinen Politthriller Ides of March mit sich und Ryan Gosling in den Hauptrollen. Und schon 2008 hatte Doug Liman, Regisseur des ersten Jason Bourne-Films, die Stadt für seinen Abenteuerfilm Jumper entdeckt, in dem Hayden Christensen (ehemals Anakin Skywalker) einen gelangweilten Teenager gibt, der sich mit Superkräften und Diebstählen aus seinem miefigen Kleinstadt-Dasein befreit.

Ich kann die Liste noch lange fortsetzen. Ann Arbor hat es mit seinem gutnachbarlichen Charme und seinen heimeligen, zweigeschossigen Kleinstadthäuschen in Downtown geschafft, sowas wie das Gesicht Amerikas zu werden. Natürlich reden wir hier vom Kino-Amerika. Ich kenne das Land ja trotz einiger Aufenthalte vor allem aus dem Kino; und da auch nur das Land, das mir eben erzählt wird.

Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Schallplattenladen in Ann ArborAnn Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024Ann Harbor, 15. Oktober 2024

Das real existierende Ann Arbor ist, wenig überraschend, durch die Universität geprägt: Secondhand-Buchläden, Naturkost, Boutiquen, Vinyl-Schallplatten, kleine Kneipen finden sich zu Hauf. Wenn hier gestreifte Flaggen vor dem Haus flattern, dann nicht Stars & Stripes, sondern der Regenbogen. Ich war zum Abendessen in einem Deli, „Zingerman’s“, das von außen winzig und kaum wie ein Restaurant aussieht, bis ich mich drinnen fast verlaufen hätte. Ein schöner Laden mit großartiger Käsetheke – mit der ich als Reisender im Moment leider wenig anfangen kann – und berückend schmackhafter Essensauswahl. Später fand ich heraus, dass auch mein Reiseführer den Laden hervorhebt, und wenn man ihn dann googelt, nun ja, sagen wir so: Er ist kein Geheimtipp.

Apropos Reiseführer: Ich bin nun in Michigan, habe meinen bisherigen Reiseführer „USA Ostküste“ eingetauscht gegen „USA Große Seen – Chicago“ und auch meine Begleitung durch die USA-Experten geht zu Ende, nur noch das Hotel in Chicago ist schon gebucht. In Ann Arbor habe ich mich gestern spontan von Niagara Falls aus über AirBnB in eine Einliegerwohnung in der Innenstadt eingemietet.

Für morgen geplant hatte ich dann, ein wenig rumzufahren, schon mal Atmosphäre aufzunehmen in dieser von den Great Lakes geprägten Region, in der ich mich kommende Woche, nach Chicago, ausführlicher umsehen will. Aber vielleicht bleibe ich auch einfach in dieser schönen Stadt und stromere ein bisschen herum.

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