Einfahrt nach Frankenmuth, Michigan am 16.10.2024
Gastronomie,  Reisen,  Tourismus

Swing State

Der Blick schweift ungehindert, der Wald ist weniger geworden. Anders als in Neuengland dominieren jetzt weite Felder die ersten Eindrücke. Kaum noch Harris/Walz-Schilder in den Vorgärten. Hier im Südosten Michigans im Dreieck Ann Arbor, Jackson und Flint stehen die Trump/Vance-Schilder hoch im Kurs. Michigan ist ein Swing State, hier entscheiden sich die Wähler in der Mehrheit mal für die einen, mal für die anderen. Der Staat hat 15 Wahlmänner zu vergeben. 15 Wahlmänner sind schon ein Pfund. Der Präsidentschaftskandidat, der die einfache Mehrheit der Wählerstimmen in einem Bundesstaat wie Michigan erreicht, erhält in den meisten Bundesstaaten alle Wahlleute dieses Staates (Ausnahmen von diesem Prinzip bilden Nebraska und Maine) – The winner takes it all.

Die Republikanische Partei ist in Michigan gegründet worden, am 6. Juli 1854 in Jackson. Unter einer Eiche. In dem Versammlungshaus, in dem die Gründer sich eigentlich verabredet hatten, war es an dem Tag so heiß und stickig, dass man sich kurzfristig entschloss, die Zeremonie unter die Eiche auf „Morgan’s Forty“ zu verlegen an den Rand der Stadt. Heute ist das die Ecke W Franklin und Second Street in Jackson, mitten in der Stadt. Hauptanliegen der Parteigründer damals war die Abschaffung der Sklaverei. Seit zwei Jahre vorher das Buch „Onkel Tom’s Hütte“ erschienen war, hatte sich hier im Norden der Unmut über die Sklaverei im Süden verschärft. Ein Fluchthelfer-Netzwerk, das sich „Underground Railroad“ nannte, brachte die flüchtigen Sklaven nach Jackson. Hier fanden sie Unterschlupf, eine neue Identität und alles für den Weg über die Grenze nach Kanada. Geschichten rund um die „Underground Railroad“ sind mehrfach verfilmt worden, zuletzt 2021 als Serie für einen Streaminganbieter.

Die Gründungseiche der Republikanischen Partei in Jackson, Michigan, am 16.10.2024

Die Eiche wollte ich mir ansehen. In 20 Tagen gibt es diese Wahl, die das Zeug hat, politische und gesellschaftliche Beben auszulösen. Die Eiche erinnert an die friedlichen und humanistischen Anfänge einer der beiden Kombattanten. Unter ihr steht heute ein Gedenkstein: „Hier, unter dieser Eiche, wurde am 6. Juli 1854 die Republikanische Partei geboren, dazu bestimmt, in den Wirren des Bürgerkriegs die Sklaverei abzuschaffen, die Demokratie zu verteidigen und die Union zu verfestigen“. Die Flagge darüber hängt schlaff, Autofahrer und Passanten nehmen die Gedenkstelle gar nicht mehr wahr.

Ich bin anschließend noch zwei Stunden nach Norden gefahren in die Stadt Frankenmuth, die so etwas sein soll wie eine deutsche Enklave. 1845 haben sich hier 15 Auswanderer aus Franken niedergelassen, die vor Hunger und politischen Unruhen in Bayern geflohen waren. Sie gründeten die Kolonie Frankenmuth und begannen sogleich, in Gottesfurcht das Land urbar zu machen und die hiesigen Fremden im lutherischen Glauben zu missionieren. Auf einer steinernen Infotafel heißt es „Hier wie in vielen anderen Gegenden Michigans haben deutsche Siedler viel zum kulturellen Erbe des Staates beigetragen.“

Hinweis auf einen Markt für deutsche Würste in Frankenmuth, Michigan am 16.10.2024

Heute vermarktet sich das Städtchen sehr erfolgreich als deutsche Würschtelbude mit „Willkommen“ über der Einfahrt, vermeintlich deutschen Bieren, einem Indoor-Spaßbad inklusive gigantischer Rutschbahn, Schweizer Käse, italienischem Rotwein und französischer Charcuterie – hier wird die Europäische Union gelebt. Drei Millionen Touristen sehen sich das jedes Jahr an. Das sind so viele, wie in den Acadia Nationalpark oben in Maine kommen, in dem ich vergangene Woche war. Hauptattraktion ist eine gigantische Ausstellungsfläche für Weinachtsdekoration. Hier kann man an 365 Tagen im Jahr in Tannenbäumen, Nikoläusen, Christbaumkugeln, Krippenfiguren und rotnasigen Rentieren schwelgen.

Bronners Christmas Wonderland in Frankenmuth, Michigan

Ich wollte das nicht tun. Die Sonne schien, es fehlte der Schnee und außerdem fehlte mir in der Stadt der Teil zum Bummeln, also der, durch den ich einfach spazieren und mir dabei vorstellen kann, wie die hier 1845 mit Nichts im Nichts angefangen haben. Stattdessen gibt es Kulissenhäuser, in denen wahlweise Gastronomisches oder Nippes zum Kauf angeboten wird. Auch die Amerikaner feiern ihre Klischees über die Anderen.

Ich aß ein üppiges Sandwich, setzte mich ins Auto und fuhr heim nach Ann Arbor. Morgen nachmittag erwarte ich mich in Chicago.

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