Die Illusionsmaschine
Kaum bin ich in Los Angeles, bin ich Inhalt der Abendnachrichten auf NBC. Auf der Fahrt von Vegas hierher hatte ich mit zähflüssigem Verkehr gekämpft und einem, ich schätze, 15 Meilen Stau, der sich nach einer Brücke auflöste, an der vier neonfarbene Kranwagen am Straßenrand standen. In L.A. kann sowas passieren, dachte ich am Steuer, dass die eine wichtige Passstraße dicht machen für den Dreh eines Werbespots – die bunten Kranwagen sahen halt aus dem Augenwinkel nicht aus wie schon mal ernsthaft eingesetzt.
In den Abendnachrichten wurde die Meldung mit einer Luftaufnahme eingeleitet. Da standen die grell bunten Kranwagen am Straßenrand und weiter unten im Tal lag ein Truck auf der Seite. Der muss da irgendwie vom Asphalt abgekommen und die Böschung runtergefallen sein. Der Fahrer hat überlebt und die Leute mit den Kranwagen würden noch länger zu tun haben, war die Quintessenz des NBC-Berichts.
Hauptsache im Bild
Die Luftaufnahme stand nicht lange genug, aber vielleicht war mein weißer Dodge, und damit ich, im Bild. Darum geht’s hier in der Stadt, in der jeder Kellner, jeder Straßenkünstler, jeder Uberfahrer – und natürlich auch die jeweilig passenden Innen – auf seinen/ihren Moment warten, in dem sie von einem Filmproduzenten entdeckt werden, im Bild sind.
Wenn man bereit ist, seine Ambitionen zurückzuschrauben und ganz unten anzufangen, klappt das vielleicht sogar. Ich hatte meinen überteuerten Bedauern-Burger darüber, dass der Jurassic World-Ride in den Universal Studios, Hollywood, wegen Sanierung geschlossen ist, noch nicht verarbeitet, da stand ich vor einem ausgewachsenen Triceratops am Rande der Jurassic World-Anlage, den zwei angestrengte Park Ranger in einen Käfig bugsierten.
Es war klar, dass das kein echter Triceratops war, sondern eine Mischung aus mindestens zwei Menschen – sicher mit ambitionierten Plänen, es als Schauspieler beim Film zu schaffen – unter einem raffiniert animierten Kostüm. Aber alle zufälligen Augenzeugen, von denen ich einer war, ließen sich hinreißen von diesem harmlosen Schauspiel – dem, ich möchte sagen natürlich, weil das einfach der Logik des Hollywoodkinos entspricht, ein größeres Schauspiel folgte.
Die Illusion funktioniert auch ohne Digitales
Eine Rangerin trat auf und führte Blue an die frische Luft und zum Publikum. In der Weiterentwicklung der Jurassic Park-Filme, die jetzt Jurassic World heißt, ist Blue eine gezüchtete Velociraptordame, die dem Helden auf Handzeichen folgt – was für den wissenden Fan insofern spannend ist, weil die Raptoren immer die raffinierten Biester waren, die Killerbestien. Tatsächlich gehen die Szenen mit der folgsamen Blue im Film Jurassic World dann ans Herz – hach, man kann Dinosaurier zähmen.
Kann man natürlich nicht, aber das ist eine andere Geschichte, die in der Fortsetzung erzählt wird.
An diesem 26. November steht nun die Rangerin mit Blue auf dem Gelände der Universal Studios. Schon nur ein Blick auf Blues Tatzen müsste die Illusion eigentlich kaputt machen: Die Krallen stehen in der Luft, die Füße sind intelligent kaschierte Stiefel, mit denen der Mensch mit Schauspielambitionen in dem ausladenden und schweren Blue-Kostüm über lange Zeit sein Gleichgewicht halten kann. Also: Mensch in animatronischem Raptorkostüm! Und doch bewegt sich das Ding wie ein Raptor, gibt mithilfe der Soundanlage auch die spezifischen Laute von sich, und dann diese scharfen Zähne.
Kinder finden den Mensch im Kostüm unheimlich
Egal, was der 63 Jahre alte Blogger da alles sieht und in seinem Zynismus zu Grabe tragen will: Die Illusion funktioniert. Das sehe ich an den Gesichtern der Kinder, die von der Rangerin geschickt in die Vorführung eingebunden werden und alle dem Frieden nicht trauen. Eigentlich sollen sie nur mit Handzeichen mit dem Raptor kommunizieren – es gibt eine entsprechende Szene im Film. Die Rangerin hat das vorgemacht, wahrscheinlich haben die Kinder die Szene auch schon zuhause auf Netflix gesehen, aber so in echt vor diesem gefährlich schnaubenden Ding, ist das offenbar was anderes. Ein Junge schafft es gerade, dem kostümierten Blue seine Handfläche zu zeigen. Als Blue fauchend reagiert, ist der Junge weg. Die anderen Kinder auch. Ich nicht. Ich würde tatsächlich gerne mit dem Raptor spielen, der kein Raptor ist und deutlich falsche Tatzen hat.
Die Illusion funktioniert. Auch wegen der Rangerin, die cool in ihrer Rolle bleibt, erzählt, rote Hemden könnten Blue aggressiv machen, weil sie das Rot an frisches Fleisch erinnere – woraufhin noch ein paar Kinder einen Schritt zurück machen. Und die locker hintergründige Fragen aus dem Publikum zum Raptor beantwortet – „Good Question!“ – und dabei das Tier in Schach hält, wenn das plötzlich wild faucht.
Das Analoge ist verschwunden
Die Universal Studios zeigen auf beeindruckende Weise, was die Kunstform Film alles kann, und, wie die Industrie drumherum all das in einen seelenlosen Popanz verwandelt. Als ich 1989 hier und in Disneyland war, gab es als Höhepunkt einen mechanischen King Kong, der sehr mechanisch und sehr beeindruckend die Hochbahn aus den Gleisen hob, die unserem herannahenden Besucherzug nun fehlen würden; und es gab einen C-3PO-artigen Piloten, der uns durch einen Asteroidensturm steuerte, der vor uns auf einem mittelgroßen Schirm tobte, während unsere Sessel, in denen wir wie auf der Achterbahn angeschnallt saßen, synchron zum Sturm hin und her wackelten und damit eine lebensechte Illusion erzeugten. Damals war das große Unterhaltung, 1-A-Kino. Vier Jahre später gab es schon den Back to the Future-Ride, der den kleinen Schirm mit den Asteroiden gegen eine gigantische Leinwand mit Zeitsprungbildern, Feuersbrünsten und Dinosauriern vor noch schaukelnderen Sitzen eintauschte. Auch das: gigantisch! Damals!
Heute ist das Analoge auf der Tour beinahe verschwunden. Bei der traditionellen Studio-Tour fahren wir immer noch in die U-Bahnstation, die dann im Rahmen eines Naturereignisses einstürzt und mit Wasser geflutet wird. Die King Kong-Show aber ist einem rein digital gefilmten Effektspektakel gewichen, für das der Besucher die 3D-Brille aufziehen muss. Was dann passiert, ist großartig – auf einer Leinwand, die von der linken Seite über das Studiotour-Bähnchen hinweg bis auf die rechte Seite reicht, kämpft Kong, wie in Peter Jacksons Neufassung des Monsterdramas, mit Dinosauriern, die unseren Besucherzug angreifen und auseinander reißen, was Kong mit aller Gewalt verhindert – unser Besucherzug wackelt zu der Situation entsprechend kräftig. Das ist spektakulär und Wow, aber reines Pixelgewitter. Die Faszination erzeugt das mechanisch hin und her wankende Bähnchen, in dem wir sitzen. Das Bild alleine reißt die Zuschauer im Kino des 21. Jahrhunderts nicht mehr vom Hocker. Anschließend erzählen auf einem kleinen Monitor im Besucherwaggon die Tricktechniker, wie schwierig es war, diese Bilder zu designen und zu programmieren. Nichts mehr analog gebaut. Die Kunst steckt sogar auf der haptischen Filmtour im Computer.
Um Film geht es in den Universal Studios nicht mehr
1993 hatte die Tour in den Universal Studios in Florida den Hauch einer Informationsreise. Man hatte den Eindruck, durch ein Filmstudio zu spazieren, echte Filmtechnik erklärt zu bekommen und nebenbei fantastische Achterbahnfahrten zu erleben. Heute ist die legendäre Studiotour nach 40 Minuten vorbei, ist dabei durch zwei komplett digitale 3D-Rides gefahren, dazu durch die erwähnte überflutete U-Bahnstation und durch den guten alten Der weiße Hai-Teich getuckert, an dem die Tourguide auch nach 35 Jahren noch die Geschichte erzählt, in deren Rahmen ihr Freund, ein Taucher, vom Hai gefressen wird, anschließend ein Steg in die Luft fliegt und der Hai aus dem Wasser springt. Für den eigentlichen Prozess des Filmemachens, also das Schreiben, das Bauen von Kulissen, die Arbeit mit der Kamera und die kreative Notwendigkeit am Schnittpult bleiben auf der Tour zusammengerechnet noch etwa fünf Minuten.
Die Besucher werden stattdessen für ihr teuer erkauftes Ticket durch Themenparks zu Filmen und Serien geführt, zu denen immer ein aufwendiger Thrillride gehört sowie ein je nach Alter der Zielgruppe konzipiertes Achterbähnchen oder Klettergerüst. Und dann jede Menge Verköstigungsstände, an denen jeweils Burger/Taco/Burrito plus Getränk mit rund 20 Dollar zu Buche schlagen. Über die Kunst des Filmemachens erfährt man im Filmstudio nur noch wenig, hat aber monstermäßig Spaß dabei – ich am meisten beim Ritt auf dem Besenstil beim Quidditch durch die Harry Potter-Welt, die von einem Feuer speienden Drachen aufgemischt wird. Sagenhaft! Ich habe tatsächlich begeistert gejuchzt während der Show.
Ein Tripp hinein in die Welt jenseits des Bildschirms
In der Super Mario-Welt werde ich, ausgestattet mit einer Augmented-Reality-Brille, Bestandteil eines Computerspiels, werde, angeschnallt in meinem Kirmeswagen, durch eine Spielewelt geschleudert, in der ich Schatzkästlein einsammeln, Gegner abschießen und Punkte sammeln muss – so, wie früher auf der Konsole, nur dass ich nun innerhalb der Konsole bin. Der Thrillride, vor allem die Gegner, findet zu 80 Prozent auf meiner Brille statt, aber am Ende habe ich von den vier Leuten in meinem Wagen ganz analog die wenigsten Punkte erspielt.
Bei diesen Rides geht es um den Thrill, den Spaß des Augenblicks, nicht um das zentrale Element des Films, das Bild. Um das macht sich DreamWorks verdient, die Produktionsfirma für Trickfilme, die Steven Spielberg maßgeblich initiiert hat. Auch DreamWorks bietet einen Ride an, rund um den knuddeligen Kung Fu Panda. Der muss ein Zauberelixier sicher in die Hände des Kaisers bringen und auch dabei geht es auf und – vor allem – steil bergab. Während in den Abenteuer-Rides der Nachbarn nun aber die Besucher in schaukelnden Achterbahnsitzen festgeschnallt werden, sitzen wir bei DreamWorks im traditionellen Kinosessel, der einigermaßen synchron zum Bild wackelt, wie es ihn mittlerweile in jedem Multiplexkino gibt. Dafür leuchten die Bilder um uns herum umso farbiger. DreamWorks setzt sogar auf so einer Tour auf die klassischen Elemente.
Eine Stuntshow einfach mit Menschen
Geradezu herrlich altmodisch kommt die gute alte Stuntshow rüber, die heute über Kevin Costners Waterworld erzählt wird. Da springen und schießen Menschen und explodieren Gebäude und Gelände ganz ohne digitale Verstärkung.
Die Welten in den Universal Studios sind grandios unterhaltsam. Und seelenlos. So wie das zeitgenössische Kino.
Was soll’s? Ich habe mich einen Tag lang wie das Kind von früher gefühlt, das mit großen Augen in das Zimmer mit den Spielzeugen kommt. Sowas macht der Zauber des Kinos!