
Die Schrecken auf Reisen
Es wird natürlich keinen Roman geben, in dem Stephen King mein Vorbeirollen an seinem Haus, wie gestern vermutet, als Gruselelement verarbeitet. Wer bin ich denn? Der einzige, der die Idee hat, wenn ich schon mal an Bangor vorbeifahre, dann könnte ich ja mal gucken?
Manchmal bin ich über meine Naivität ein bisschen irritiert. Ich rolle also heute Vormittag durch die Straße, in der Stephen Kings Haus steht, und während mein Navi mich gerne noch eine Ecke weiter lenken möchte, sehe ich vor Hausnummer 47 schon zwei Familien stehen, die eifrig Selfies vor der roten viktorianischen Villa machen. In der Zeit, in der ich mein Auto abstelle, aussteige und hinüber schlendere, haben zwei weitere Autos gehalten, aus denen jeweils Paare steigen. Ich falle in dem kleinen Pulk, wenn überhaupt, nur wegen meiner Größe auf.
Es ist nicht wirklich das Haus, in dem Stephen King lebt. Hier ist seine „Stephen & Tabitha King Foundation“ untergebracht. Das Haus hinter dem schmiedeeisernen Eingangstor mit eingearbeiteten Spinnweben, Fledermäusen und einem dreiköpfigen Drachen wirkt verlassen. Vor der Garage stehen zwei Autos, vielleicht sind also doch Menschen im Haus, die Kings gewaltiges Opus archivieren. Kann aber auch sein, dass King das Haus, in dem er wirklich eine Zeit lang gewohnt haben soll, als Placebo da stehen gelassen hat, damit all die Touristen, die auf eine Nähe hoffen und ein Selfie machen wollen, sich nicht vor seinem tatsächlichen Wohnhaus versammeln, dessen Adresse der Autor zahlloser Weltbestseller sicher nicht so einfach bei Google veröffentlichen würde.
Wenn er aber doch im Haus ist, im ersten Stock uns hinter der Gardine links im Erker beobachtet, spielt er mit seinem Lieblingstopos. Mehrfach hat er die Qualen eines Autors, eines erfolgreichen noch dazu, in seinen Romanen verarbeitet – in Misery etwa oder in The Dark Half.
Da standen sie wieder vor seinem Fenster. Wie er sie verachtete. Sie hatten ihn reich gemacht, ihm diesen Palast, den Chauffeur mit Auto und all die First Class Reisen ermöglicht. Er müsse ihnen dankbar sein. So dachten sie, das forderten sie. Daraus zogen sie ihr Selbstverständnis, da stehen und glotzen zu dürfen, als hätten sie kein eigenes Leben.
Nein, ausgelaugt hatten sie ihn, alles aus ihm herausgezogen, das mal in ihm war. Er war so leer, wie eine zusammengequetschte Dose Mountain Dew im Rinnstein. Dort hatte Muli ihn gefunden. Er hatte es Muli getauft, weil es ihm ungerührt wie ein Esel einen Erfolgsroman nach dem anderen in die Tastatur diktierte. Seine letzten drei Bücher, jedes erfolgreicher, als das davor, waren genau genommen nicht von ihm. Aber wie hätte er das erklären sollen? Und warum überhaupt? Er brauchte den Ruhm. Der war wie eine Droge. Aber dieser Ruhm sind dann diese lächerlichen Figuren, die Selfies vor seinem Haus machen. Sieht so die Unsterblichkeit des erfolgreichsten Autors aller Zeiten aus? Touristen in Funktionskleidung, die ihn anhimmeln? Den Pulitzerpreis hätte er verdient, aber die literarische Elite an der Ostküste nahm in nicht zur Kenntnis; wer Fans hat, Leser in Funktionsjacken, ist in deren Augen keiner von ihnen, kein Auteur.
Muli hatte genau zugehört. Als es den Autor gefunden hatte, war sein Energiespeicher voll, noch einen Tag länger ohne Abfluss und das Overload hätte Muli platzen lassen. Sein Wirt brauchte erfolgreiche Romane, Muli weniger Energie. Seine Art konnte Energie in alles wandeln, auch in massentaugliche Romane; was waren die schließlich anderes als ausgefeilte Algorithmen. Aber jetzt drohte der Autor als Kraftquelle zu versiegen wegen der lächerlichen Figuren draußen vor dem Fenster. Diese Figuren liebten die Albträume, die der Autor in seinen Romanen entfesselte. Muli beschloss ihnen diese Albträume zu beschaffen. Ohne die Romane des Autors dazwischen.
Seit ich Stephen Kings Haus verlassen hatte, waren drei Stunden vergangen. Ich hatte eine lange Strecke bis tief in die White Mountains in New Hampshire hinein. Auf der Karte sah das gar nicht so viel aus. Als ich dann zum Tanken aus dem Wagen sprang, wäre ich beinahe auf dem Hosenboden gelandet – ich hatte weiche Knie.

Fahren in amerikanischen Autos ist verführerisch, nein: gefährlich. Ich brauche meine Beine nicht. Das linke ohnehin nicht, ist ja ein Automatikgetriebe. Das rechte aber auch kaum. Ich stelle den Tempomat auf die erlaubte Geschwindigkeit und der automatische Abstandhalter erledigt den Rest, bremst den Wagen zur Not auch zum Stillstand, wenn das Auto vor uns stehen bleiben will. Ändert sich die Geschwindigkeitsbegrenzung, ändere ich den Tempomat über die Tasten am Steuerrad. Amerikanische Autos setzen auf Bequemlichkeit, nicht auf PS. Die Motorleistung meines Dodge ist bescheiden, stehe ich an der Ampel, komme ich kaum vom Fleck, wenn es grün wird – es sei denn, ich trete das Gaspedal durch, aber dann röhrt der Bolide auf wie ein Tyrannosaurus; auch nicht schön. So sitze ich also auf meinem als Fahrersitz designten Wohnzimmersessel und halte den Wagen mit dem Steuer in der Spur und schaue der amerikanischen Landschaft beim vorbeiziehen zu, während meine Beine nutzlos im Fußraum herumliegen. Ich habe mich schon bei 55 Meilen die Stunde bei dem Gedanken ertappt, dass ich ja noch ein Foto im WhatsApp-Status hochladen könnte.
Wenn ich dann an der Tankstelle aus dem Auto springe – meine Füße erreichen den Asphalt nicht, wenn ich auf dem Fahrersitz sitze (das war bei meinem Cabrio noch anders) – geben meine Beine nach, weil die erst wieder daran erinnert werden müssen, dass sie einen Zweck zu erfüllen haben.
In Florida bereiten sie sich auf Monstersturm Milton vor. Gouverneur Ron DeSantis sagt seinen Landsleuten: Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie da. Glauben Sie nicht, Sie könnten vor Milton Unterschlupf finden. „You will die!“ Die Zerstörung wird groß sein.
Das ist gruselig, so eine Zerstörung mit Ansage zu bekommen und niemand kann etwas tun. Der republikanische Präsidentschaftskandidat schlachtet den Hurrikan für seinen Wahlkampf aus, Präsident Biden hat alle Mühe, den Lügen vernehmbar zu widersprechen.

Vor den Wohnhäusern sammeln sich Gespenster, Hexen und Kürbisse. Und hinter einer Gardine entwirft jemand Albträume.


Ein Kommentar
Markus
Das entspannte Fahren kann man auch hier (in D) haben: Tempomat. Auf lange Strecken extrem entspannend. Kann ich mir gut vorstellen, dass es in den USA auf diesen langen langen Highways noch mal extremer ist! Ansonsten sehr schöne Geschichte mit den Promi-Spots!