Hört auf die Schreie
Ein enttäuschter Kandidat verliert die Fassung. Der AfD-Kandidat will seine alte Dregger-CDU zurück haben. Die Kandidaten der Grünen applaudieren sich selbst. Und die Kanzlerin erklärt weiter-regieren-können zum Selbstzweck ihrer Partei. Was für ein Fernsehabend.
Der wahrhaftigste Moment am Abend des 24. Septembers, des Sonntags der Bundestagswahl, jener Moment, in dem das Fernsehen zeigte, warum es eben manchmal doch das bessere Medium ist, besser als das Kino-im-Kopf-Radio, besser als das Wir-sind-schneller-Internet, kam in der Berliner Runde, als der abgeschlagene SPD-Kandidat Martin Schulz seine ganze zornige Enttäuschung zwischen den Zähnen hervor ätzte und Grünen und Gelben versprach, sie könnten leicht mit der CDU koalieren, deren Vorsitzende werde alle ihre Bedingungen erfüllen, Hauptsache sie sei weiter Kanzlerin. Im Radio wäre das ein weiterer Schulz-O-Ton gewesen, etwas knurriger als sonst, im Internet hätte man ihn nur lesen oder – mit der üblichen Zeitverzögerung – als angekündigtes Video („Guckt mal, der Schulz macht den Schröder.“) erleben können. Im Live-Fernsehen kam dieser Ausbruch unvermittelt, unvorbereitet. Ein schöner Abend.
Geht die Welt jetzt unter?
Wobei „schön“ natürlich relativ ist. Für mich begann er um kurz nach 17 Uhr mit dem ZDF-Wahlstudio. Ich hatte gerade 34 Kilometer und vier Stunden im Ruderboot hinter mir, hing ermattet auf der Couch und glitt frohen Herzens, aber ohne große Erwartungen in den Abend, dem ich kurz vor Mitternacht, das Illner-Spezial war noch nicht ganz zu Ende, in den Schlaf entglitt. Dazwischen Prognosen, Analysen, GroKo-Absagen, Hochrechnungen, Es-ist-jetzt-noch-zu-früh-aber-wir-danken-unseren-Wählern-Statements, eine in Bayern entdeckte offene Flanke und wenig aussagekräftige Wir-geben-jetzt-nochmal-zur-Wahlparty-X-Schalten.
Und der Abend der 13 braunen Prozent. Ein Abend, an dem offenbar die Katastrophe über Deutschland hereingebrochen ist. So katastrophal, dass man fast zu hoffen gewillt war, dass der Irre aus Pjöngjang und der Irre aus Washington möglichst bald ihre Wasserstoffbomben zünden. Die AfD. Nu isse drin. „Aus dem Nichts.“ Als wäre die deutsche Welt bisher eine heile gewesen, stellte sich um 18 Uhr heraus, dass sie doch auch immer noch ein wenig eine ist, die gerne „Heil!“ ruft. Wie ist das möglich, wo es Deutschland doch so gut geht? Diese Frage war, um ein Modewort zu maltraitieren, das Narrativ dieses Abends. Nicht die Zukunft Deutschlands nach Abzug des Wahlkampfrauchs und mit geklärten Parteifronten wurde erfragt, statt dessen fragten Rainald Becker und Peter Frey in der „Berliner Runde“ reihum jeden, wie er oder sie, nachdem er oder sie ja nun diese Wahl verloren habe, mit dem Ergebnis umzugehen gedenke. Dann sagten alle, dass die anderen aber viel mehr verloren hätten, stritten sich dann über die AfD, entzogen sich gegenseitig wahlweise das Wort oder die Kompetenz und abschließend durfte jeder und jede noch eine Frage zu Europa beantworten.
Regieren in der Filterblase
Bei Anne Will gab es den nächsten wahrhaftigen Fernsehmoment an diesem Abend. Sie konfrontierte die stellvertretende CDU-Vorsitzende Ursula von der Leyen mit einem Zitat aus dem November 2016 („also vor fast einem Jahr“). Da hatte von der Leyen im SPIEGEL eine gewisse „Erklärungsfaulheit“ in der Großen Koalition ausgemacht („Die Große Koalition hat zu einer Erklärungsfaulheit geführt, weil die Debatten nicht so heftig und lebhaft waren.“). Warum sie denn dieser Erkenntnis ein Jahr vor der Wahl keine Taten habe folgen lassen, warum also die Union ihre komplexe Politik nicht offensiver erklärt habe, fragt nun Anne Will Frau von der Leyen. Naja, es sei ja auch so, hebt von der Leyen an, dass man ja sehen müsse, was die Partei auch erreicht habe. Kinderarmut auf Null, nahezu Vollbeschäftigung und andere Vorlagen aus dem Satzbaukasten der Union kamen da zum Vorschein, die schon die SPD nicht im Alltag erkennt, die die Linke ins Reich der Phantasie verweist und von denen „die abgehängten“ Bürgerinnen und Bürger, die sich von drei Jobs gerade so über Wasser halten, noch nie gehört haben. Will unterbrach, „ja, aber was haben Sie denn unternommen gegen die Erklärungsfaulheit?“ Und von der Leyen machte wieder Satzbaukasten – „müssen wir ernst nehmen“, „verantwortlich handeln“, „Probleme anpacken“ – und Will hakte wieder ein und das ging zehn Minuten so. Da musste die CDU-Frau fast froh sein, dass ihr Alexander Gauland, der Gottseibeiuns von der AfD, nicht mit konkreten Zielen seiner Partei entgegentrat und stattdessen erklärte, dass es „im Moment nicht unsere Aufgabe“ ist, konstruktive Politik zu machen. Und als er wenig später beklagte, dass streitbare Debatten – oder kurz: Streit – im Parlament fehlten und er seiner Sehnsucht nach provozierenden Reden à la Wehner, Strauß, Brandt oder Geißler nachhing, da mochte man ihm angesichts all der jeden politischen Streit scheuenden Gesichter der Politstars um ihn herum, fast folgen.
Sobald es konkret wird, flüchten die Etablierten in Floskeln, die die Extremisten dann gerne aufgreifen. Kein Internet auf dem platten Land? Verstehe Ihr Problem, sagt die Kanzlerin in der ZDFwahlarena, formuliert dann irgendwas für die ferne Zukunft und außerdem sei halt Internet auf dem platten Land leider wirtschaftlich nicht reizvoll. Punkt, Schulterzucken, nächstes Thema. Die lassen Euch im Stich, sagen kurz die Extremisten. Ihnen nutzt da auch die 30-Sekunden-Demokratie, die die aktuellen Fernsehformate fordern: Komplexe Sachverhalte lassen sich in 30 Sekunden nicht erklären, das macht es Rattenfängern leicht. „Flüchtende an der Grenze erschießen!“ ist kürzer, als dem Hartz-IV-Empfänger in Mecklenburg-Vorpommern die Arbeitsmarktproblematik in der digitalisierten Globalisierung zu erläutern – und vielerorts auch besser für die Quote.
Ironisch witzeln zugunsten der Rechtsextremen
Mit komplexen Lösungsansätzen komplexer Politik erreicht man wohl immer noch 87 Prozent Stimmen von Menschen, die wissen, dass Politik „in einem der dramatischsten Umbrüche der Menschheit, der Digitalisierung“ (Angela Merkel in der Berliner Runde) das Bohren ganz dicker Bretter ist, vulgo, nur sehr langsam voranschreitet – aber jetzt eben auch schon 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht mehr. Aber was hilft das langfristig der AfD, deren Wählerschaft sich zu 60 Prozent aus reinen Protestwählern zusammensetzt? Protestwähler, die vor vier Jahren noch Die Linke gewählt haben und die in vier Jahren … ja, wen denn wählen? Die dann etablierte (also ebenfalls böse) AfD? Oder den nächsten Rattenfänger, der noch griffigere Anti-Parolen trötet? Oder schaffen es die sogenannten Etablierten endlich, die Abgehängten, die Frustrierten nicht nur zu hören, sondern auch auf sie zu- und einzugehen – ihre Erklärungsfaulheit also zu beenden?
Ja, die Medien mit ihrem Hunger auf Zitat-Häppchen tragen eine Mitschuld an dieser Entwicklung. Das darf aber professionell arbeitenden Parteistrategen nicht als Ausrede dienen, sondern muss ihnen Ansporn sein, ihre komplexen Programme entsprechend klug und hintergründig – wenn es sein muss: häppchengerecht zu servieren. Manchen gelingt das, zum Beispiel in der heute show, schon ganz gut. Aber eben diese Satiresendung des öffentlich-rechtlichen ZDF am Freitagabend gibt, wenn auch ungewollt, dem rechtsradikalen Affen Zucker.
Wenn die heute show zwei Tage vor der Wahl eine viertel Stunde lang gegen die AfD stänkert, sich über deren Wähler lustig macht und die Funktionäre als gehirnlose Zombies designt, dann ist das eine viertel Stunde lang Wahlkampf für die AfD, eine viertel Stunde Motivation für die Abgehängten, die Vergessenen, für all die Faust-in-der-Tasche-Baller ohne Internet, deren Probleme von den Parteien in Berlin nicht aufgegriffen, aber vom Öffentlich-Rechtlichen veralbert werden, es jetzt erst recht mal mit denen zu probieren.
Coolness first, Inhalt second
Und die Fans der TV-Satire machen fleißig mit. Bei Facebook und Twitter pushen sie sich gegenseitigen mit Witzeleien, originellen Sprüchen und mahnenden Zeigefingern, es ist eine Art Witzel-Battle, der verlässlich jeden Pups der AfD zum großen Skandal aufbläst. Jeden Tag jagen neue ironische Witzeleien gegen „die Doofen von der AfD“ durch die Sozialen Medien; in ihrer jeweiligen Echokammer stänkern sie jeden Politiker, der sich außerhalb ihrer jeweiligen Filterblase bewegt, in Grund und Boden. Coole Bemerkung first, Inhalt second. Als kürzlich ein Video im Netz auftaucht, das den späteren FDP-Chef Lindner als kurz vor dem Abitur stehenden, nun ja, Geschäftsmann zeigt,
Ein Gedankenspiel: Setze „Beatrix von Storch“ für „Freundin 1“, „Alice Weidel“ für „Freundin 2“ und „Alexander Gauland“ für „Freund 3“. Das „Netz“ hätte gebebt („AfD-Storch will FDP-Chef kaputthauen“). Ist aber nur ein Gedankenspiel.
So waren es nur gesellschaftlich aufgeklärte Freunde der Willkommenskultur, die im www eben ein bisschen ihr Mütchen kühlen und das sicher irgendwie ironisch meinten. Ich will nicht die geschmacklosen Entgleisungen der Rechtsverdreher relativieren, aber warum wird eigentlich jeder AfD-Spruch im Wahlkampf als todernst gemeint hochgejazzt und tagelang diskutiert, während man selber sich jederzeit im Mäntelchen der Ironie seinen Gewaltphantasien hingeben und damit auf Likes hoffen darf?
Was unterscheidet eigentlich linke von rechten trillerpfeifenden Krakeelern?
40 Krakeeler, Pfeifer und Trillerer auf einer Merkel-Kundgebung mit 500 Zuhörern? Immer ein Skandal! 40 Krakeeler, Pfeifer und Trillerer auf einer ähnlich großen AfD-Kundgebung? Ausdruck eines liberal gesinnten Bürgertums. Am Abend der Wahl versammeln sich vor dem Haus, in dem die AfD ihre demokratisch legitimierten 13 Prozent feiert, mehrere hundert Menschen mit Transparenten und Trillerpfeifen, um gegen die 13 Prozent zu protestieren; in ersten TV-Berichten sind Polizeiwagen zu sehen, der Reporter sagt, hier und da kommt es zu Rangeleien, insgesamt aber ist es – und an der Stelle betont er verheißungsvoll: „noch“ – friedlich. Wie hätten die Medien berichtet, wäre dieselbe Anzahl trillernder Transparenteträgerinnen und -träger vor der Wahlparty der CDU oder SPD aufgetaucht? Ich weiß es nicht. Ich war nicht da. Aber ich verstehe nach diesem langen Fernsehabend am Ende dieser langen Wahlkampfwochen in Wort, Bild und Social Media, dass sich Menschen in der politischen Landschaft, im Fernsehprogramm, im Alltag nicht wiederfinden, nicht abgebildet, nicht wahrgenommen sehen. Und dann laut schreien.
„Wer schreit, hat unrecht!“ habe ich schon in Kindheitstagen gelernt. Da bin ich – als Jüngster in einer fünfköpfigen Familie – auch schon mal unartikuliert laut geworden, wenn „die Großen“ mal wieder über Atomraketen, Emanzipation oder Abtreibung diskutierten und mich nicht weiter zur Kenntnis nahmen. Da half – jedenfalls aus meiner Sicht – nur auf den Tisch hauen, „Ihr seid alle blöd!“ brüllen und türenknallend in meinem Zimmer zu verschwinden. Das brachte mich inhaltlich in der jeweiligen Diskussion nicht weiter, aber ich wurde wenigstens zur Kenntnis genommen. Manchmal ist Geschrei ja auch ein Schrei nach Hilfe. Der einsame Rufer in der Wüste ruft ja nicht aus Spaß. Er ruft, weil er Hilfe zum Überleben braucht. Vielleicht müssen wir den Schreihälsen auf den Plätzen auch noch einmal – eine halbe Stunde später, wenn Merkel wieder weg ist und sich alle etwas beruhigt haben – ernsthaft zuhören. Vielleicht kommen da ja dann überraschende Einsichten, mit denen sich unser Gemeinwesen ernsthaft auseinandersetzen kann – anstatt das jemand das nächste Ani-Gif kreischender Ostdeutscher durch die Sozialen Medien schickt.
Regieren als Selbstzweck einer Partei
Immerhin: Die Kanzlerin gemahnte zur Ruhe und stellte in der Berliner Runde trocken fest, ihre Partei habe zwar Prozentpunkte verloren, ihr Wahlziel aber erreicht, das da laute, ohne CDU/CSU oder gegen CDU/CSU könne keine Regierung gestellt werden – Regieren als Selbstzweck der Union? Und die Inhalte liefern dann die jeweiligen Koalitionspartner? Plötzlich war der Sarkasmus des Martin Schulz mit Händen zu greifen. Ein großer Fernsehabend.
P.S.: Um das klar zu stellen – von wegen „Du warst wie Lindner?“. Ich mag rechte Faschisten genauso wenig wie linke Faschisten – oder sich liberal gebende. Als eine halbe Stunde nach meiner jugendlichen Schreierei ein Familienmitglied seinen Kopf durch meine Zimmertür steckte, lernte ich alsbald: Nur Zuhören hilft. Und Reden. Und Denken zwischen Beidem ist auch nicht verkehrt.
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