#TdE: Bleiben Sie vom Fenster weg!
Die Politik erkennt, dass sie auf die Probleme der Menschen eingehen muss. Zum Tag der Deutschen Einheit zeigt die Stadt Mainz: Hier muss man nicht arbeitslos oder ohne Kita-Platz sein, um sich abgehängt zu fühlen. Es reicht, in der Stadt zu wohnen.
Die da oben und die da unten verstehen sich nicht mehr, reden aneinander vorbei, reden von Sachzwängen die einen, von Prioritäten die anderen. Dann bekommt eine Protestpartei 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl und alle sind unisono erschrocken, reden von Nazipartei, „Gauleiter“ und völkischer Gesinnung, die es einzuhegen gelte. Im Übrigen seien mehr als 60 Prozent dieser Nazi-Partei-Wähler ja Protestwähler, mithin gar keine Nazis, mithin nicht gefährlich, mithin Leute, die man nun zurückholen müsse ins „demokratische Spektrum“, die man abholen müsse, denen man vielleicht auch besser zuhören müsse. Ich höre da immer Sigmar Gabriel, der es mit der Weisheit, die SPD müsse dahin gehen, wo das Leben ist und wo es gelegentlich „auch stinkt“, in den ewigen Zitatekanon dieser Republik geschafft hat. Als sei es den Parteivertretern nicht zuzumuten, zum Wähler zu gehen und zuzuhören, weil es bei diesem Wähler stinkt.
Das ist ja auch schwer, machen wir uns nichts vor! Von Berlin aus gesehen, eingeengt zwischen Trump und Kim, EU und Macron, zwischen Dieselkrise, Arbeitsmarkt und Schwarzer Null ist es ein komplexes Unterfangen, der allein erziehenden Mutter im Bayerischen Wald, die wegen eines fehlenden Kitaplatzes ihren Job in der örtlichen Versicherungsfilliale aufgeben musste und die mangels Breitbandanschluss auch den Home-Office-Job nicht annehmen kann, mit weltpolitischen Sachzwängen zu kommen. Das beliebte Politik- und Politiker-Bashing wollen wir uns also ersparen.
210.000 Einwohner, 500.000 Besucher
Aber vielleicht wollen wir doch noch mal einen Blick auf diese Sachzwänge, mit denen wir uns fesseln und knebeln, werfen. Schauen wir auf die Stadt Mainz, Hauptstadt des Bundeslands Rheinland-Pfalz.
Rheinland-Pfalz hat seit Oktober vergangenen Jahres den Vorsitz im Bundesrat und ist daher Gastgeber der zentralen Feierlichkeiten zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit – neudeutsch: #TdE. Mainz hat 210.000 Einwohner. Es erwartet etwa 500.000 Besucher, weil ja ein langes Wochenende ansteht – der eigentliche Feiertag ist ein Dienstag; die offizielle Einheitssause beginnt deshalb schon am Montag und mancher nutzt das Wochenende davor sicher auch, um sich die Stadt und das schöne Umland etwas ausgiebiger anzuschauen.
Sachzwänge beherrschen die Spielräume
Aber er hat besser kein Auto dabei. Einen Rucksack – Sicherheit!!!! – sollte er vielleicht im Hotel lassen. Und so richtig was zu sehen von der bunten Vielfalt, die die kleine Hauptstadt im Alltag auszeichnet, bekommt er auch nicht. Und das hat mit den erwähnten Sachzwängen zu tun. Die in der sonst sehr gastfreundlichen Bürgerschaft der Stadt großen Unmut auslösen.
- Sachzwang #1: Einen reibungslosen Ablauf garantieren
- Sachzwang #2: Mainz will sich von seiner besten Seite präsentieren
- Sachzwang #3: Die Sicherheit für Bundespräsident, Bundeskanzlerin und andere Prominenz gewährleisten
- Sachzwang #4: Die Sicherheit der Bürger gewährleisten, Anschläge verhindern
Wenn sich am Dienstag die hohe Prominenz nach dem Hochamt im Dom ins Goldene Buch der Stadt einträgt und zu diesem Zwecke vom Dom zum Römischen Kaiser spaziert – das ist ein normalerweise fünf- bis zehnminütiger Spaziergang über den malerischen Marktplatz der Stadt – sind die Anwohner aufgefordert, ihren Fenstern fernzubleiben; ein nervöser Scharfschütze der Bundespolizei könnte sie erschießen. Wir leben in Zeiten des Terrors, da können wir nicht mehr im Fenster stehen, Fähnchen schwenken und den Herrschenden zujubeln … oder Merkel-muss-weg-Transparante wedeln.
Noch besser wäre ohnehin, diese Anwohner würden sich zu diesem Tag der Deutschen Einheit aus ihren Innenstadtwohnungen verdrücken und das verlängerte Wochenende draußen auf dem Land verbringen. Sie kommen sowieso kaum in ihre Wohnungen. Überall in der Stadt wird seit Tagen gehämmert, geschraubt und abgesperrt. Zelte werden aufgebaut, schließlich will sich jedes der 16 Bundesländer in riesigen Zelten präsentieren, Sponsoren brauchen Fläche, um ihre Produkte zu zeigen, regionale Weine wollen präsentiert sein, am Rheinufer sollen sich auf großen Showbühnen Prominente das Mikro in die Hand geben. Kurz: Die roten Sandsteinfassaden der Innenstadt verschwinden hinter weißen Kunststoffzelten.
Mainz goes Disneyland
Am Montag, dem Brückentag, der ja ein normaler Geschäftstag ist, an dem sich die Stadt so einen großen Zulauf erhofft, bleiben viele Geschäfte in der Innenstadt geschlossen – ungeübte Passanten würden die reizvollen Geschäfte hinter den Zeltburgen ohnehin nicht finden, geschweige denn erkennen. Das lebensfrohe Mainz, das so gern „auf seinen Plätzen lebt“, präsentiert sich seinen Besuchern ausgerechnet an diesem nationalen Jubelwochenende als tote Fassade, als eine Art Disney-Version der kleinen Stadt im Rheinhessischen. Selbst die Marktleute, die Freitags und Samstags im Schatten des Doms ihre frische Ware feilbieten – und jeden Samstag zu den großen Magneten der Einkaufsstadt gehören – wurden ausgelagert und präsentieren sich nun im Gewerbegebiet auf dem Parkplatz eines großen Möbelhauses.
Die Theodor-Heuss-Brücke, die zentrale Rheinüberquerung in die Stadt, bleibt zwei Tage für den Autoverkehr geschlossen. Touristen aus Fern und Nah werden gebeten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder zu Fuß zu gehen. Das kennen die Mainzer im Prinzip. Seit vier Jahren wachsen gefühlt jede Woche neue Baustellen, die Durchgangsstraßen versperren, Ladengeschäfte von ihrer Kundschaft trennen und für Dauerstau sorgen. Zum #TdE sind die Mainzer gehalten, ihr Auto vielleicht eher im Weinberg der Nachbargemeinde abzustellen, aber bitte nicht in der Stadt. Theoretisch können sie auch in Parkhäuser am Stadtrand ausweichen – sofern die nicht geblockt sind für die Einsatzfahrzeuge von Sicherheits- und Rettungskräften.
Wir feiern gerne, wollen aber gefragt werden
Rekapitulieren wir kurz: Thema ist der Politfrust, ist das aneinander vorbei Reden von Volk und Volksvertreter, aufgezeigt im kommunalen Alltag – große Politik quasi unterm Brennglas. Kaum jemand in Mainz hat was dagegen, dass in ihre schöne Heimatstadt 500.000 Menschen zum Feiern kommen, der Mainzer als solcher ist ein geselliger Mensch, als die Staatskanzlei freiwillige Helfer zum #TdE suchte, hatten sich im Nu genug gefunden – auch der Autor dieses Textes ist dabei – und auch, dass die Stadt gewissen Sicherheits- und organisatorischen Zwängen unterliegt, stellt hier kaum jemand in Frage (außer denen, die sowieso alles doof finden, was deutsch als Adjektiv mit sich trägt). Und selbst die, die sich darüber ärgern, dass sie in der Innenstadt über zwei Wochen lang ihr Auto nicht wie sonst üblich in Wohnungsnähe parken können, ärgern sich weniger über die Kosten, die ihnen entstehen (die lokale „Allgemeine Zeitung“ hat am Dienstag Parktipps zusammengestellt, die andeuten, dass man im schlimmsten Fall mit etwa 120 Euro ins Soll gerät, wenn man das Auto für diese zwei Umbauwochen ins Parkhaus stellt – viel Geld, aber die Bewohner in der Innenstadt sind eher keine armen Leute, da unterscheidet sich Mainz nicht von München oder Köln).
Irritiert sind die Menschen in Mainz, dass die Obrigkeit das einfach so festlegt, Sachzwänge postuliert und sich dann für nicht zuständig erklärt. Als die Innenstadtbewohner von der Stadt wissen wollten, wohin sie denn mit ihren Autos ausweichen sollen – schließlich müssten sie ja jeden Morgen zur Arbeit –, erklärte sich das Rathaus für nicht zuständig, als hätte es noch nie von so etwas wie seinem Hausrecht gehört, und verwies auf den „Veranstalter“. Das ist die Staatskanzlei. In der Staatskanzlei erfuhren Interessierte vor drei Wochen, als sie eine dürre Sie-müssen-woanders-parken-Broschüre im Briefkasten fanden, zunächst, dass die Staatskanzlei kein Problem erkennen könne, weil sich ja auch kaum jemand beklagt habe. Und als sich die Klagen in den letzten Tagen dann doch häuften, ließ die Staatskanzlei erklären, für Parkkosten-Rückerstattung sei leider kein Geld da. Kein Geld? Die Fernsehsender sollen stimmungsvolle Bilder aus einer sauberen kleinen Hauptstadt senden. Dafür lagen 350.000 Euro bereit – für die perfekte Show zur Deutschen Einheit, nicht für deren Bürger.
350.000 Euro für Sitzbänke, Weinreben und Toiletten
Unter anderem wurden damit Graffiti übermalt, Weinreben auf dem baumfreien Rathausplatz gepflanzt (Mainz gehört schließlich zum Kreis der Great Wine Capitals), Fahrbahnmarkierungen geweißelt sowie öffentliche Toiletten gesäubert und gestrichen; 15.000 Euro gehen allein in die Müllentsorgung. Die lokale AZ zitiert die Sprecherin der Staatskanzlei, die sagt, man könne „keine Lösung anbieten“. Ausweichparkplätze bereitzustellen sei wegen des großen betroffenen Bereichs weder „logistisch noch finanziell“ machbar gewesen. Die 350.000 Euro reichen dafür jedenfalls nicht.
Da kann sich der einfache Bürger – der mittellose wie der wohlhabende, Familien wie Alleinerziehende, Frauen wie Männer, Junge wie Alte, Mainzer Feierbiester wie Eremiten – schon gegängelt, bevormundet, vulgo: nicht ernst genommen fühlen. Der wundert sich, dass die Brunnen im Stadtgebiet – wenn nicht gerade #TdE ist – nur sprudeln, wenn die Bürger genug Geld dafür spenden, aber jetzt noch rasch Sitzbänke ausgetauscht werden, nur weil die alten nicht mehr ganz frisch glänzen. Sicher erheben sich in Rathaus und Staatskanzlei gleich hilfreiche Zeigefinger, die auf den Unterschied zwischen kommunalen und rheinland-pfälzischen Finanztöpfen hinweisen – egal, dass es dem Bürger egal ist, wie sich seine Steuerlast auf welche Töpfe verteilt, solange diese Last nur sinnvoll eingesetzt wird.
Niemand wählt gleich Faschisten, weil er für zwei Wochen keinen kostenfreien Parkplatz hat (eine Woche Aufbau, zwei Tage Sause, eine Woche Abbau), aber die schulterzuckende Wortarmut, mit der Ämter und Behörden über ihren Souverän hinwegrollen, beschreibt die Tendenz zur Entfremdung.
Bezeichnend, dass Michael Ebling (SPD), Oberbürgermeister in Mainz, sich gerade in einem Interview freut, dass die Protestpartei AfD in Mainz schlechter abgeschnitten habe, als im Bundesdurchschnitt. In den beiden Stadtteilen, in denen sie dennoch gut abgeschnitten habe, könnte das „womöglich daran liegen, dass hier etwas mehr Menschen leben, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen“. Es handele sich da um Leute, „die Probleme mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen haben. Darauf müssen wir Antworten finden.“
Die Ereignisse rund um – ausgerechnet – den Tag der Deutschen Einheit in Mainz könnten beim Antworten finden helfen.
Ein Kommentar
Sutter Lfons
Das hat für mich jeden Charakter einer Feier verloren.