Willkommen auf dem Mond
Der Weg zum Mond ist nicht weit. Von Pocatello, Idaho, aus sind es keine vier Stunden. Ich stehe in einem Salzsee ohne See. Während bei klarem, blauem Himmel der Wind mit hohen Geschwindigkeiten tobt, stehe ich auf dem platten Wüstenboden, der – ein Schmecktest beweist es – salzig ist.
Staub–, oder Salz-Fontänen, aufgescheucht vom Wind, tanzen Walzer, am Horizont verblassen ein paar höhere Felsen. Im Westen stehen, vor der tief stehenden Sonne kaum zu erkennen, auf einem kleinen Parkplatz Autos mit Menschen darin, die auf irgendwas warten. Ab und an kommt auch ein Auto aus der leeren Wüste und fährt auf den Parkplatz. Auf diesem Boden sind Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt und gebrochen worden – Überschallgeschwindigkeit mit einem Auto! Immer im August versuchen sie das wieder. Heute, 12. November, kommen Familienväter, die ihren SUV mal auf Touren bringen wollen. Der flache, an manchen Stellen bis zu vier Meter tiefe Salzboden ohne weitere Hindernisse – wie Schlaglöcher, Hubbel, Stopp-Schilder, Ampeln oder Gegenverkehr – macht’s möglich.
Salzsee ohne Tempolimit
Ich gehe zu Fuß. Ein Mexikaner wundert sich, sieht meinen Dodge und fragt, warum ich nicht mal Tempo mache. Ich sage, ich komme aus Germany, einem Land ohne gesetzliches Tempolimit. Weiter muss ich nichts sagen. Von den sagenhaften Autobahnfreuden in diesem fernen Land hat er schon gehört. So, wie er mich anguckt, beneidet er mich und versteht, dass ich zu Fuß gehe. Nach ein, zwei Kilometern verliert man die Orientierung – nicht die Kompassorientierung, wo die Sonne nieder geht, sehe ich ja. Aber Entfernungen sind unmöglich abzuschätzen. Die fernen Felsen im blassen Dunst sind immer noch ferne Felsen. Die Autos am Parkplatz sind mehr, aber nicht kleiner geworden. Ich hätte die Trainings-App an meiner Smartwatch starten sollen, dann könnte ich sagen, wie viele Kilometer ich spaziert bin.
Über mir blauer Himmel mit interessanten Wolkenformationen, unter mir salziger Boden, der beim Gehen knarzt wie Neuschnee. Um mich herum Nichts. Nicht mal Touristen. Ich bin … Ganz! Alleine! Wenn sich jetzt ein gigantischer Sandwurm wie aus dem Film Dune (2021) ankündigen würde, ich wäre zu weit weg von jeder rettenden Insel. Die winzigen Autofahrer im Westen, die blassen Felsen im Osten, keine Chance. Dune ist nicht hier gedreht worden, aber in einer Filmkulisse stehe ich trotzdem: Will Smith hat hier als Airforce-Pilot einen unfreundlichen Außerirdischen auf die US-Art willkommen geheißen – in Independence Day (1996); ein Schlag auf die 12, ein Oneliner („Welcome to America!“) und sich eine Zigarre angesteckt. Im dritten Teil von Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt (2007) landet Jack Sparrow mitsamt seiner Black Pearl eben hier.
Hin und her zwischen zwei Zeitzonen
Der Bonneville Salt Flat ist ein Geschenk Gottes an die Filmindustrie. Vor zweieinhalb Millionen Jahren entstand hier ein See, etwa so groß wie der Lake Michigan. Dann brach ein Ufer und es passierte, was passiert, wenn man den Stöpsel aus der Badewanne zieht – der See floss ab, die übrig gebliebene Wassermenge konnte sich nicht halten, was übrig blieb, versalzte. Heute finden Regisseure hier Kulissen für fremde Welten, Abenteuerfilme, Rennfahrerfilme. Wenn ich meiner Uhr trauen darf an diesem unwirklichen Ort, der auch noch zwischen zwei Zeitzonen liegt – fünf Kilometer westlich, in Nevada, ist es eine Stunde früher als hier in Utah, dort gilt schon Pacific-Time –, bin ich mehr als zwei Stunden über das Salz gewandert. Ohne Worte.
Keine zehn Autominuten entfernt das krasse Gegenteil. Fluglärm, Explosionen, Schießereien, eine Corvette, die an einem Haken hängt, der aus einem fliegenden Flugzeug hängt und die Corvette mit Schmackes in den Tower des Airfield schmettert.
Dabei hatte der Tag depressiv begonnen. Als ich wach wurde in Pocatello, Idaho, platschten schwere Regentropfen auf ein Garagendach neben meinem Fenster. Okay, dachte ich, Reisetag im Regen, man kann nicht alles haben. Dann hörte das Pladdern auf. Wie schön, dachte ich, schaute aus dem Fenster und sah dicke Schneeflocken, die sich sanft und schweigsam auf den Boden senkten und liegen blieben. Als ich meine Sachen in den Dodge räumte, war der schon von einer dicken Schneeschicht bedeckt.
Flugplatz zwischen Atombombe und Con Air
Aber ich fuhr ja nach Süden und tatsächlich war, als ich die Grenze nach Utah passierte, von Schnee keine Spur mehr. Als ich Nevada erreichte, strahlte längst die Sonne zwischen interessanten Wolkenteppichen, die sich rund um die umliegenden Berge wanden, und die Uhr sprang eine Stunde zurück. Mein Ziel war Wendover, das genau auf der Grenze zwischen Utah und Nevada liegt, und da genauer das Wendover Airfield. Historisch ist dieser Flugplatz von Bedeutung als Teil des Manhattan Projects. Hier trainierten Piloten mit der Enola Gay den perfekten Abwurf der ersten Atombombe, die später auf Hiroshima fiel. Die Army hat hier ein informatives Militärmuseum eingerichtet.
Die Uhr sprang um, diesmal wieder vorwärts.
Auf dem Wendover Airfield sind auch Szenen für zahlreiche Filme gedreht worden. In Con Air wurde 1997 die Corvette durch den Tower des Flugplatzes geschleudert. Auch Jurassic Park III (2001), der Hulk von 2003 und Indiana Jones auf seinem letzten Abenteuer 2023 haben hier Station gemacht.
Eine Stadt, zwei Glücksspiel-Gesetze
Ein vielseitiger Dienstag: Schnee und Grau sowie Sonne und Blau und ein Ort mit gleich zwei Drehorten für noch viel mehr Filme, in dem auch noch zwei unterschiedliche Gesetze herrschen. Schon in meinem Rand McNally-Atlas hatte ich mich gewundert, das West Wendover so deutlich hervorgehoben wird; von einem West Missoula, einem West Billings war mir vorher nichts aufgefallen. Vor Ort wird klar: Es gibt Wendover in Utah und es gibt West Wendover in Nevada. In Nevada ist Glücksspiel erlaubt, im von Mormonen gegründeten Utah, das sich durch einen Bienenkorb als Sinnbild des Fleißes symbolisiert, nicht. Man kann die Staatsgrenze im Ort leicht erkennen: Direkt daran liegt auf Nevada-Seite die Ostseite des ersten von mehreren Casinos in West Wendover. Vor einigen Jahren stimmten sowohl die Bewohner West Wendovers, als auch der ärmeren östlichen Hälfte in Utah für den Anschluss an Nevada. Der Antrag hat es aber noch nicht in den US-Kongress geschafft.
Als ich auf Nevada-Seite heute Abend essen war, auf Utah-Seite gibt es nur Takeaways, war es wieder eine Stunde früher und das Casino um das Restaurant herum nur spärlich gefüllt. Nebensaison. Ich singe ein Hohelied auf meine späte Reisezeit, vor der mich alle gewarnt hatten – Schneestürme, Blizzards. Ich wollte aber Indian Summer, deswegen konnte ich nicht früher reisen. Indian Summer habe ich bekommen. Und dazu Klimawandel: Meistens Sonne und, seit ich Neuengland verlassen habe, kaum Touristen.
Morgen verlasse ich den zeitlosen Mond. Morgen suche ich Spuren zweier berühmter Bankräuber aus dem späten Wilden Westen.