Melancholie
Jetzt endlich ist Winter, dachte ich, als ich heute Morgen in den Wagen stieg, um zum Sonnenaufgang zu fahren. Fröstelnde Temperaturen, die Jacke klamm, ich brauchte Handschuhe und Mütze. War aber ein Irrtum. Die Jacke hatte halt die Nacht zusammen mit dem Auto draußen bei Minustemperaturen verbracht.
Vor Reiseantritt war ich ins Grübeln verfallen, weil ich doch gewarnt worden war wegen des harten Winters „da oben” – Schneetreiben, Blizzards, hoffentlich hätte ich ordentliche Reifen auf dem Wagen; die müsse man „um die Jahreszeit“ schon haben. Wieso war ich eigentlich nicht im Sommer gestartet und dann so gereist, dass ich zum Indian Summer Mitte Oktober an der Ostküste bin? Genau deswegen: Richtung Ostküste? Für mich ist eine USA-Reise immer eine Sache von Ost nach West.
Nun bin ich heute am Grand Canyon entlang spaziert und habe wieder nach einem Kilometer meinen Pullover ausgezogen. Für den war es zu warm unter dem wolkenlosen Himmel. Schon beim Bewundern des Spektakels, das ein Sonnenaufgang über diesen riesigen Schluchten bedeutet, hatte ich den Reißverschluss meiner Jacke bald offen. Ein Eichhörnchen balancierte geschickt auf einen vorstehenden Felsen, um sich nach der kalten Nacht in der Sonne aufzuwärmen. Ich habe Glück gehabt mit dem Wetter. Abgesehen von New York, wo es, sobald ich den Staat betrat, regnete – kürzlich habe ich gelesen, New York City leide unter einer Dürre, es habe den trockensten Oktober seit weißnichtwann erlebt, die Bewohner seien aufgerufen, Wasser zu sparen. In New York war ich wohl zu früh dran. Aber sonst? Drei Stunden Schneetreiben und ein paar regnerische Wolkentage in – bislang – acht Wochen?
Der zweite Tag am Rand der Schlucht war sonnig, durchweht von einem Hauch Melancholie. Ich hatte ein paar Sonnenaufgangsfotos mit dem Kommentar „Good Morning“ in meinen WhatsApp-Status gestellt, da machte es Ping und ich wurde gefragt, wann ich denn eigentlich zurück komme. Ich rechnete und stellte fest, die Zeitumstellung eingerechnet – es war hier Freitag, kurz nach neun, in Mainz also kurz nach 17 Uhr – bin ich heute in einer Woche schon wieder zu Hause und habe die erste Wäsche in der Maschine. Ups. Mir war schon klar, dass die Reise Ende November zu Ende geht, aber dieses „Ende November” war abstrakt. Jetzt nicht mehr.
Noch eine Nacht am Grand Canyon, zwei Nächte in Las Vegas, drei in Los Angeles. Dann ist Donnerstag, ich packe ein letztes Mal meine Sachen ins Auto, fahre zum Flughafen … dieser Gedanke wanderte in meinem Kopf hin und her, der die Leere am Canyon gleich für eine erste Bilanz nutzen wollte. Auf die hatte mein Bauch aber noch keine Lust. Und zum Glück war es auch nicht so leer wie gestern. Heute war ich vom Tourist Center aus losgezogen, da hat man es dann auf den den ersten Metern mit kinderreichen Familien, Händchen haltenden Liebespaaren, ununterbrochen redenden Wandergruppen, Gassi-Gehern und sogar Joggerinnen zu tun. Für ein erstes Bilanzieren war es nicht ruhig genug. Noch habe ich ja ein paar Tage.
Wenn ich morgen Nachmittag in Las Vegas mein Quartier im Excalibur Hotel beziehe, ist das mein erster Großstadtaufenthalt seit Minneapolis – das war die Stadt ohne Postkarten, aber mit der größten Shopping Mall Amerikas. Das war Ende Oktober – bald einen Monat her, ewig. Danach? Wildes Land. Weit. Flach. Gebirge. Hochebenen. Entspannte Städtchen. Dazwischen wurde ein Präsident gewählt.
Und jetzt also Las Vegas. Am Wochenende vor Thanksgiving. Das wird bestimmt lustig. Auch dieses Mal werde ich wieder 20 Dollar riskieren.
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