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Ich bin zu alt fürs Kino

Ich stecke in einer veritablen Beziehungskrise. Nach Jahrzehnten innig empfundener Zuneigung, ja: Liebe, spüre ich … nichts mehr. Zweimal erst haben wir uns im laufenden Jahr gesehen. Und da war das zweite Mal auch nur eine Wiederholung des ersten Mals. Ich habe, ich weiß nicht, wie ich’s anders ausdrücken soll, keine Lust mehr. Vielleicht ist die Geliebte mittlerweile zu jung für mich. Oder ich zu alt?

Früher, also zwischen meinem 12. und 55. Lebensjahr bin ich zweimal die Woche ins Kino gegangen – manchmal auch viermal, ich habe den Hals nicht voll gekriegt –, sehr gerne in das in Kreisen als „kommerziell“ beschimpfte Kino aus den USA – Action, Abenteuer, RomCom, Drama, egal, Hauptsache irre unterhaltsam – aber auch Italiener und Franzosen lockten mich, die einen mit ihren wortkargen Impressionen, die anderen mit ihren sprachgewaltigen Figuren, die in Herzensdinge verstrickt waren.

Wenn der Film gut war, war es mir auch egal, wenn ich meinen zwei Meter langen Körper in viel zu enge Sitzreihen mit meist nicht mehr so richtig fest angeschraubten Sesseln quetschen musste, ich hab’s auch ertragen, wenn mal in einem Kleinkino der Betrieb aus dem angrenzenden Dönerladen akustisch in die Haupthandlung schwappte. Dafür gibt es für die andere Art von Filmen dann ja das Mainzer Multiplexkino mit Liegesesseln und Dolby Surround und -Atmos und riesigen Nachoschalen für überteuertes Geld – eine Schale mit zwei Saucen aktuell ca. 12 Euro. Das Multiplexkino war lange das einzige verbliebene Kino in der sich gerne als Medienstadt feiernden kleinen Hauptstadt, die Programmkinos sind einem Hausbesitzerwechsel zum Opfer gefallen, in dessen Folge abgerissen und neu gebaut werden soll; im Neubau soll aber wieder Platz für vier Säle sein – ab 2028 oder so.

Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

Ich gehe ja ohnehin nicht mehr ins Kino. In meiner Tageszeitung zuhause, auf Litfaßsäulen in der Stadt, überall fühle ich mich gerade sehr direkt auf diese gestörte Liebe angesprochen. Es wird an meine Sehnsucht nach „Emotionen“ appelliert, mir der Wunsch in den Mund gelegt, ”mal wieder nicht aufstehen“ zu wollen; gemeint ist: weil das Kino so voller (Er)leben, so voller Gefühl sei. Mein Kino ist das aber nicht mehr.

Mein Kinoerlebnis in den 2020ern besteht aus desinteressierten Betreibern im Cinestar Mainz, die auf Umsätze schauen, aber nicht auf ihren USP – Stühle verklebt, Licht bleibt an, Leinwand hat über Monate dunkle Flecken, zu den Hochbetriebszeiten sind nur zwei Kassen geöffnet plus eine Infotheke, an der man aber keine Tickets bekommt, durchs Foyer zieht das süßliche Odeur von Urinstein –, und in den Sitzreihen um mich herum sind die Besucher während des Films damit beschäftigt, ihre im Dunklen grell leuchtenden Handys zu befingern. Sobald sie sich vom Touchscreen lösen, gleiten die Hände in den Popcorneimer, in dem sie dann gelangweilt, aber vernehmlich rühren. Kinobetreiber und Filmschaffende reden, auf die durchaus vorhandene Krise des Kinos angesprochen (die natürlich viel langsamer daher kommt, als unter anderem ich Defätist das prognostiziere), immer vom „Gemeinschaftserlebnis Kino“ das durch nichts zu ersetzen sei, und ich würde ihnen da so gerne zustimmen. Wenn die Leute bloß nicht dauernd auf Ihr Smartphone glotzen würden, das so gar nichts mit Gemeinschaftserlebnis zu tun hat.

Zu diesem kulturlosen Verhalten passen die Filme solcher Kinos heutzutage. Ja, ich habe ähnliche Filme in solchen Kinos selber jahrzehntelang verfolgt, in den 80er, 90er und auch noch Nuller Jahren (selbst in den 70er Jahren, als noch der Schuhschachtel-Terror der Ufa-Kinokette herrschte, es darin aber eben auch Der Pate, Krieg der Sterne und die Disaster Movies gab, die ähnlich inflationär waren, wie bis vor Kurzem die MARVEL-Filme). Aber wenn damals jemand an seiner Cola gesogen hat und die Flasche war leer (Becher gab es nicht), hat er peinlich berührt ob der lauten Blubbergeräusche sofort damit aufgehört; Handys gab es eh noch keine. Dazu standen die erwähnten Filme am Anfang einer neuen Zeitrechnung des Kinos.

Die US-Kinoindustrie, vulgo: Hollywood, war da gerade auf der Suche nach neuen Inhalten. Die Salonkomödien, Western, Kriegs– oder Sandalenfilme hatten sich in den 60ern totgelaufen, waren in der Produktion zu teuer oder am Publikumsgeschmack vorbei. Die Disaster Movies bedeuteten das letzte Aufbäumen der Industrie, bevor die Kreativen das Ruder übernahmen: Arthur Penn, Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola, Martin Scorsese, Steven Spielberg, George Lucas. Dieses Kino aus den 70er Jahren wird im Feuilleton als New Hollywood gefeiert.

Ich glaube, die Industrie braucht dringend ein New Hollywood 2.0. These: Sind die Filme mal nicht mehr so vorhersehbar, wie der jüngste Ghostbusters-Film, lassen die Zuschauer und Innen auch wieder ihre Hände vom Smartphone.

Durch das Überangebot an alternativen Abspielstätten, neben Kinos haben sich zahlreiche Streamingdienste etabliert, werden vor allem noch zwei Arten von Filmen produziert: solche, denen die Algorithmen der Streamingdienste erfolgreiche Plot Points bescheinigen (die folglich von künftigen Drehbuchautoren bitteschön auch für Kinoproduktionen einzuhalten sind) und solche, in denen der Starregisseur von einst damit drohen kann „Wenn Ihr mein Oscar-würdiges Material nicht wollt, gehe ich halt zu den anderen“. Deshalb darf Martin Scorsese heute seine Filme auf Längen jenseits der drei Stunden aufblasen, weil sich seiner überlangen Vision zwar die Filmstudios verschließen, ein Streamingdienst die Filme aber mit der Hoffnung auf Oscars, die sein Discounter-Image aufpolieren, produziert. Nicht falsch verstehen: Das soll ruhig so sein. Entwicklung heißt, zu gucken, wo man die jungen Leute abholen kann, die für Actionklamotten und Superhelden im Zweifel auch noch in 30 Jahren zahlen möchten (wenn ich bedenke, das Marvel-Comics am Anfang meiner Lust an in Bildern erzählten Geschichten standen und die Marvel-Filme mich 50 Jahre später aus meinem geliebten Kino vertreiben … Darth Vader hätte gesagt „Der Kreis schließt sich”).

Die Filmschaffenden leben ganz gut davon. Ich nicht. Mich langweilt dieses immer Gleiche und nervt das immer demonstrativer gelangweilte Publikum. Oder, wie es in einem der Filme aus meiner großen Zeit des Kinos hieß: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß!“ Im mittlerweile acht Monate alten Jahr 2024 komme ich auf elf Filme, die heuer bei uns angelaufen sind, zehn davon habe ich mir daheim auf meinem Dolby-Surround-Plasma angeschaut.

Nur bei Dune: Part II hat es wieder gekitzelt, dieses Gefühl, „nicht aufstehen zu wollen“. Und das sogar zweimal. Ist das schon Emotion? Ist das ein Hoffnungsschimmer?

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