
The American Way
Heute ist was Komisches passiert. Ich weiß, dass Geschichten in Filmen und die Realität eher dosiert Schnittmengen haben. Ich war lange genug Nachrichtenredakteur, um zu wissen, wie scheiße die Welt sein kann. Ich bin alt genug, um sogar Tatsächlich… Liebe (2003) mit Zynismus zerlegen zu können – was ich nicht will, aber das ist eine andere Geschichte.
Was ich am Kino so gut finde – jedenfalls an dem Kino, das ich so schätze – ist, dass es mir die Welt ein bisschen schöner, spannender, abwechslungsreicher erzählt, als sie in Wirklichkeit ist, und das im besten Fall auf eine Art und Weise (also Kamera, Schnitt, Ton), dass ich noch Wochen später Szenen aus dem Film ziemlich adäquat wiedergeben kann.
Also: Realität hier. Kino da. Zwei Welten, zwischen denen ich wohl zu unterscheiden weiß.
Ein Städtchen wie im Film
Heute sind die zwei Welten für einen kurzen Moment miteinander verschmolzen. Ich stand in Oak Bluffs auf dem Bürgersteig und fummelte irgendwas an meiner Kamera herum. In Oak Bluffs am Nord-Ost-Zipfel von Martha’s Vineyard landen die Fähren vom und zum Festland an. Ich war auf die um 13.15 Uhr gebucht, hatte schon kurz vor elf am Terminal gestanden, aber um die Uhrzeit konnte mit mir dort noch niemand was anfangen. Ich stellte also mein Auto ab und ging ein bisschen gucken. Oak Bluffs darf man sich nicht als einen großen Fährhafen vorstellen, sondern als weiteres kleines Städtchen auf der Insel, halt mit einem ordentlich großen Bootsanleger ausgestattet.
Die Sonne schien, die weiß gestrichenen Häuschen waren herausgeputzt, statt Supermärkten und Ladenketten wechseln sich kleine Boutiquen, Cafés und Läden mit sympathischem Allerlei für den wöchentlichen Bedarf ab, zwischendrin steht ein Haushaltswarengeschäft. Auf einem Schaufenster ist ein Kalenderspruch gepinselt, den ich mit geübter Abwehr weggrinste: „Kindness is the root of all good things“. Die Menschen flanierten, grüßten sich über die Straße hinweg, die Autos rollten im Schritttempo.
Ich stand also auf dem Bürgersteig und fummelte an meiner Kamera herum. Und fühlte mich zu Hause. Nicht wie zu Hause. Nein: Zu Hause. Als würde ich da wohnen und mich glei… Das Gefühl dauerte zu kurz. Was genau ich gleich gemacht hätte, ging unter. Das Städtchen Oak Bluffs wirkt, wie jede Kleinstadt aus jedem US-Kleinstadtfilm, den ich je gesehen habe und das kurze Gefühl war, in einer von diesen zu stehen. Alles war vertraut.
Kleinstadtgeschichten sind Heldenmärchen
Großstadtfilme bebildern den täglichen (hässlichen) Kampf ums Überleben – im Drama, in der RomCom, im Actionfilm, dem Krimi und im Monsterfilm sowieso; wenn Godzilla in die Stadt einfällt, rennen alle. In Filmen, die in kleinen Städtchen spielen, erleben wir die US-Amerikaner ganz bei sich: sehen der amerikanischen Jugend beim Werden zu, Coming of Age-Geschichten, Mädchen und Jungen entwickeln sich zu reifen Persönlichkeiten mit Bodenhaftung, gestresste Karriereyuppies lernen hier das richtige Leben kennen. Selbst, wenn dann einer wie Michael Myers auftaucht und Menschen mordet, haben wir zu Beginn eine Idylle mit Teenagern vor dem abendlichen Babysitter-Rave und jovialem Sheriff, der dabei mal Fünf gerade sein lässt, gesehen. Kleinstadt im US-Kino ist die Utopie vom großen Miteinander.
Während ich darüber nachdachte, was da eben für den Bruchteil eines Moments passiert war, rief mir jemand was zu. Es dauerte eine Weile, bis ich sah, dass zwei Meter vor der Bordsteinkante, auf der ich stand und an meiner Kamera herumfummelte, ein riesiger Dodge RAM stand. Aus dem Fahrerfenster strahlte mich ein rundlicher Mittvierziger an, als ob wir uns ein Leben lang kennen würden, ob ich wohl ein Stück zurücktreten könne, er wolle mich auf gar keinen Fall „wegstoßen“ mit seinem Wagen (”…don’t wanna hit ya!“). Diese Pick-Up-Trucks sind so groß, dass wenn der Vorderreifen die Bordsteinkante berührt, der Motorblock davor schon den halben Bürgersteig überragt. „Oh!“, rief ich, „Please don’t!“ und machte ihm mit großer Geste am Bordstein Platz. Wir lachten und die Sache war vorbei.
Fremde grüßen einander auf der Straße
Ein paar Minuten später, eine Straßenkreuzung. Ich gucke links, gucke rechts: derselbe Fahrer mit seinem Dodge RAM. Strahlend rief er, jetzt wolle er mich schon zum zweiten Mal nicht wegstoßen, winkte mich über die Straße, wünschte mir fröhlich einen „great day“ und viele gute Fotos. Das hätte eine Szene aus einem dieser Kleinstadtfilme sein können. Als wären wir zwei Nachbarn, die sich im Kleinstadtverkehr über den Weg laufen und einen kurzen Schnack halten. Zu Hause? Kindness is the root of all good things.
Es ist nicht so, dass die US-Amerikaner bessere, gar friedvollere Menschen wären. Die beinahe täglichen Schießereien, die rassistisch motivierte Gewalt, der geifernde Hass, der sich vor TV-Kameras entlädt, zeigen etwas anderes. Ich habe aber den Eindruck, dass sie sich mehr bemühen, miteinander auf eine freundliche Weise klarzukommen. In Edgartown grüßen Dich Fremde auf der Straße, wie bei uns nur Wanderer im Wald. Es gibt sogar Straßenschilder noch auf Highways, die Autofahrer auf den korrekten Abstand zwischen Auto und Radfahrer hinweisen, damit es gar nicht erst im Ansatz zu Gebrüll unter den Verkehrsteilnehmern kommt.

Wenn ich mir die Situation mit dem großen Auto und dem Fußgänger auf seinem Bürgersteig in Deutschland vorstelle – wie gesagt, ich neige zum Zynismus – da wären andere Worte geflogen.
Knusperhäuschen
And now for something competely different – etwas touristisches: Der Geist, es unbedingt hinbekommen zu wollen und dabei aber die Schönheiten nicht aus den Augen zu verlieren, spiegelt sich auch in den Knusperhäuschen in Oak Bluffs. Diese „Gingerbread Houses“ entstanden in der Folge von Grimms „Hänsel & Gretel“, das 1812 veröffentlicht wurde. Weil man aus Lebkuchen keine tragenden Häuser bauen kann, begannen die Menschen im Viktorianischen Zeitalter Häuser zu entwerfen, die die Märchenhäuser mit kunstvollem Gitterwerk, handgeschnitzten Details, steilen Dächern und eleganten Türmchen nachahmen. Sie wollten es schön und verspielt haben, selbst in der strengen viktorianischen Epoche. Da sind die Pick-Up-Fahrer und Fußgänger in den USA heute nicht viel anders.
Aber vielleicht überdrehe ich auch ein wenig, weil es mir in Neuengland so gut gefällt? Ich habe noch acht Wochen Zeit, das herauszufinden!
Mittlerweile bin ich in Yarmouth auf Cape Cod, habe mir der Region angemessen zum Dinner einen Kabeljau (engl.: „Cod“) servieren lassen und dazu ein Bier mit der lustigen Bezeichnung „Oktoberfest“.



3 Kommentare
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Markus
Sehr schöne Geschichte! Danke für die vielen Eindrücke. Ich beneide Dich um Deine Reise und die Erfahrungen, die Du da machen kannst!